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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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und gestellt, bevor die als Verfolgungskämpfe gedachten Kriegshandlungen endgültig zu Verteidigungskämpfen wurden. Das Donezgebiet konnte im Juli zweiundvierzig schließlich nicht mehr gehalten werden, die Division Wiking musste mit allen Teilen der Wehrmacht weichen. Ostwärts des Mius fanden Abwehrkämpfe statt, die sich schließlich auf die Miusstellung selbst konzentrierten. Die Ostoffensive erfolgte bis tief in den November zweiundvierzig hinein. Ihr schloss sich die Schlacht um Rostow und Bataisk an. Wer gewann? Wer verlor? Die gesamte sechste Armee war wohl eingeschlossen worden? Wo? Wieso klemmte denn das scheiß Gewehr schon wieder? Sturmmann Schmelz schaute kaum noch vom Töten auf, und in einer eintägigen Pause setzte er sich an den Stamm einer jungen Birke, die sich zwar bog, die aber nicht brach, und er legte den Spaten neben sich, der ihm zum kostbarsten Besitz geworden war. Ein Werkzeug, stellte er fest, das zum Aufbau einer Zukunft und zum Begraben der Vergangenheit gedacht sei, doch ihm diene es lediglich zur Vernichtung der Gegenwart. Gegenwart! Gab es überhaupt eine Gegenwart? Wart, kam das denn etwa nicht von Warten, und war Warten nichts anderes als leere Zeit? Gegen Wart, gegen das Warten zu warten, Sturmmann Schmelz war sich nicht sicher, zu Tode erschöpft flüsterte er in der feuchten und von Mückenschwärmen durchzogenen, kaukasischen Hitze des dreiundzwanzigsten Julis zweiundvierzig: „Mörder Schmelz, die Erinnerung ist dein Arbeitslager! Das ist deine ewige Gegenwart.“
    Kurz darauf gelang der Division Wiking ein Vorstoß über den Kuban ins Gebiet von Maikop, aber wen interessierte das? Sturmmann Schmelz auf keinen Fall. Nur Namen von Orten, die sie vernichteten, nur Namen von Landschaften, die sie verwüsteten, und in den Kämpfen im Hoch- und Westkaukasus, die sich anschlossen, verloren sie den Rottenführer Grass. Aber wo genau? Sturmmann Schmelz sah ihn von Granatsplittern zerfetzt, eine der Zigarren, die er sich in Rostow geklaut hatte, noch zwischen den Lippen. Sturmmann Schmelz nahm die Zigarre, drückte sie aus und steckte sie dem Toten in die Brusttasche. Er nahm die Erkennungsmarke an sich, bevor eine nächste Angriffswelle heran schwappte und Sturmmann Schmelz hinter der Leiche seines Freundes Deckung suchen musste. Er legte den Karabiner auf die Brust des Toten und erledigte vier Rotarmisten, was jedoch nicht viel brachte, weil so nur andere Gegner auf ihn aufmerksam wurden und ihn ins Visier nahmen. Es war doch ein Kreuz mit dieser schier unerschöpflichen Masse des Gegners! Wie viel Millionen sollten sie denn noch töten? Sturmmann Schmelz robbte rückwärts, während weiter nördlich deutsche Truppen die Wolga bei Stalingrad an diesem zweiten September zweiundvierzig erreichten. Weiter westlich wurden die Städte Bremen und Düsseldorf bombardiert, und in Göteborg stellte Gunder Hägg am zwanzigsten September seinen zehnten Weltrekord in nur zwölf Wochen auf. Er lief fünftausend Meter in dreizehn achtundfünfzig Komma zwei Minuten und blieb damit als erster Mensch unter vierzehn Minuten, worüber Sturmmann Schmelz aber nur lachen konnte, als er davon hörte. Lahmarsch, Gunder Hägg war ein verdammter Lahmarsch, soviel stand erst einmal fest!
    Marschieren, immer wieder marschieren, Sturmmann Schmelz marschierte nun schon ein ganzes Jahr hindurch, Tag um Tag, sofern er nicht gerade aufgehalten wurde, um zu töten. Geschwollene Füße, eiternde Blasen, offene Wunden, das waren nur die Begleitumstände der ersten Wochen und Monate gewesen, jetzt aber spürte Sturmmann Schmelz die Füße kaum noch, und es gab Tage, an denen er meinte, in den Stiefeln sei überhaupt nichts mehr, könne ja gar nichts mehr sein.
    Die Sowjets kamen sehr viel besser als die Deutschen und die Wikinger mit den extrem harten Klimabedingungen an der Ostfront zurecht. Hitze, Wassermangel und riesige Staubwolken beanspruchten Menschen und Material im Sommer aufs Äußerste, endlose Regenfälle und Schneeschmelze verwandelten im Herbst und im Frühjahr die unbefestigten Straßen in unpassierbare Schlammwüsten, sodass die Fronten während der Schlammperioden zu Stellungskriegen erstarrten. Die eigenen und gegnerischen Truppen blieben bis in Brusthöhe buchstäblich im Schlamm stecken und feuerten, ohne sich rühren zu können. Wurden Männer getötet, sackte ihnen lediglich der Oberkörper weg, und mit der Zeit haben diese feuchten Wüsten mit den darin steckenden Toten einfach absurd

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