Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
Vom Netzwerk:
ausgesehen, wie mein Großvater später immer wieder meinte und das Gemälde ausführlich beschrieb, das sich ihm dort geboten hatte: ‚Brauner Schlamm, in den sich Bäche und Rinnsale wie Adern legten, wobei der Schlammkörper feucht glänzte und lebendig wirkte, in dem die toten Soldaten wie Haare eines Körpers herauszuwachsen schienen, die unabhängig von der Herkunft stets vom Wind in die gleiche Richtung geworfen wurden. Und über allem der endlose Regen.‘
    Lastkraftwagen und Panzer blieben im Morast stecken und Pferdefuhrwerke stellten in diesem modernen Krieg der Industrie die einzigen einsatzfähigen Transportmittel dar, die Frage sei nur, meinte Sturmmann Schmelz, woher immer wieder all die Pferde zu bekommen seien! Die Sowjets hatten damit ja keine Probleme, aber die Wehrmacht, wie sollten die Pferde über Tausende von Kilometern transportiert werden? Und die mussten auch fressen! In den Tälern des Kaukasus begann der Pferdekrieg. In den Schlammperioden wurde auf die Pferde geschossen, die Männer waren dabei egal. Pferde, Pferde, plötzlich wollte alle Welt verdammte Pferde! Sturmmann Schmelz packte mehr als einmal die Wut über diese zum Himmel schreiende Sinnlosigkeit, doch vor allem die Winterkälte und die frostigen Schneestürme trieben ihn, wie alle anderen Männer auch, weit über die Grenzen der psychischen und physischen Belastbarkeit hinaus.
    In Erwartung eines schnellen Sieges war die Wehrmacht im ersten Jahr des Krieges im Osten in keiner Weise für den Winter ausgerüstet worden! Und nun das! Bei eisigen Temperaturen bis unter vierzig Grad versagten nicht nur Motoren und automatische Waffen, auch Wehrmachtssoldaten starben qualvoll in ungeschützten Erdlöchern. Sie starben an Erfrierung und Entkräftung leise und unbemerkt vor sich hin. Hunderttausende, und aufgrund des gefrorenen Bodens konnten die Leichen im Winter ebenso wenig bestattet werden wie unzählige Gefallene, die während wechselseitiger Vormärsche und überstürzter Rückzüge im weiten Gelände liegengelassen und als vermisst in die Statistik aufgenommen wurden. Drei Millionen achthunderttausend Deutsche starben an der Ostfront, und Sturmmann Schmelz hatte mehr als einmal den Gedanken, sich einfach gefangen nehmen zu lassen, einfach aufzustehen, hinüberzuwanken und sich abtransportieren zu lassen, wären da nicht diese verdammten Unteroffiziere gewesen, diese scharfen Hunde, die immer gleich auf die Männer schossen, die es nicht mehr aushielten und aufstanden. Diese verdammten Unteroffiziere, die sie so in den Erdlöchern hielten, bis sie elendiglich krepierten.
    Sturmmann Schmelz verlor im Winter einundvierzig zweiundvierzig so gut wie alles Menschliche, als die Wehrmacht nicht einmal über Fellhandschuhe, Pelzmäntel und Mützen verfügte und auch nicht, wie die Rote Armee, in weißen Tarnanzügen operieren konnte. Die Soldaten der deutschen Divisionen steckten in den auffälligen Uniformen fest; wie ein Hase habe man damals seelenruhig ausradiert werden können, meinte mein Großvater später, und niemand wisse heute zu sagen, wie es Sturmmann Schmelz ergangen sei und was er gefühlt habe, als er auf einen Befehl hin am Silvesterabend drei verletzte sowjetische Kriegsgefangene in einen nahen Wald führte, sie mit der Pistole mittels Genickschuss liquidierte, die Leichen liegen ließ und sich anschließend zum Scheißen und Rauchen niederließ. Ob er dort, in diesem dichten Schneefall, überhaupt noch habe fühlen und denken können, während das Thermometer dreiundzwanzig Grad unter Null angezeigt habe, dies bleibe wohl für immer im Rauschen der russischen Birken verborgen, meinte mein Großvater später immer wieder.
    Fleißig erschoss er von Silvester einundvierzig bis zum fünften Februar zweiundvierzig östlich und südlich des Dons und am Manytsch als Teil der Division Wiking. Zuverlässig stach er ein, spaltete Schädel, hackte Gliedmaßen ab, schleuderte Handgranaten in Dorfschulen, Kirchen, Kneipen, und gehorsam marschierte Sturmmann Schmelz in der Mannschaft, in der er nur noch der Richter genannt wurde. Sturmmann Schmelz blieb mittendrin und hütete seinen Spaten.
    Der Krieg sei ein Marsch, und ein Marsch habe kein Ende, meinte er, der doch nichts mehr denken wollte, gar nichts mehr. Einzig schlafen wollte er noch, einzig das Organisieren von ausreichend Schlaf ließ ihn die Tage überstehen. Egoistisch nutzte er jede noch so kleine Pause. Er döste in den Ebenen, trottete Abhänge hinunter, versuchte

Weitere Kostenlose Bücher