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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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‚Großer Vaterländischer Krieg‘ für die Sowjets bedeute. Fest nahm er sich vor, ihnen ja nicht in die Hände zu fallen, und nun war er froh, sich nicht in Gefangenschaft begeben zu haben.
    Und während die Wehrmachtssoldaten das gegenüberliegende Ufer im Visier hielten, schlichen sich die letzten Einwohner von sechs Dörfern hinterrücks heran und stürmten mit Gewehren, Jagdbögen, Speeren und Heugabeln auf die ihnen so verhassten Eindringlinge los. Es waren Greise, zehnjährige Kinder, vor Wut schreiende Mütter und wilde Jugendliche, die den Wikingern arg zusetzten, und minutenlang versagte es dem Rottenführer Woolf die Stimme, ehe er den Befehl zur Vernichtung der Anstürmenden geben konnte.
    So also sehe der sowjetische Volkssturm aus, meinte Sturmmann Schmelz, während er auf die Beine der Leute feuerte, als kämen sie direkt von den Barrikaden der Pariser Kommune.
    Es war alles andere als ehrenhaft, was sie da taten! Sturmmann Schmelz schämte sich beim Schießen, aber was galt seine Scham schon? Er biss sich auf die Unterlippe, diese Leute da, sie starben zwar alle, verschafften aber den Einheiten der Roten Armee die Zeit, die sie brauchten, um auf der Furt durch den breiten Dnjepr zu stürmen, woraufhin Oberscharführer Löst sofort den Befehl gab, die Stellung zu räumen und sich weiter hinten zu sammeln.
    Sturmmann Schmelz’ Einheit rannte über die weichen und blühenden Felder, lief kreuz und quer, und nicht wenige Soldaten wären den ganzen Mai lang durchgelaufen, hätten nicht mehr in der Ukraine angehalten, wären durch ganz Polen gehetzt und hätten sich erst wieder an der Oder umgedreht, aber es fehlten ihnen schon nach einigen hundert Metern die Kraft und die Puste, sodass sie sich notdürftig sammelten und sich dem Feind noch einmal entgegenwarfen. Ein letztes Mal und unter riesigen Kraftanstrengungen drängten sie die Einheiten der Roten Armee zurück und schickten sie über den Dnjepr zurück.
    Erneut nahmen sie am Westufer Stellung, jedoch nur noch für einige wenige Tage.
    Von Sturmmann Schmelz’ Einheit blieb nur er selbst übrig. Alle anderen Männer wurden von aufs Blut gereizten Rotarmisten in eine Scheune getrieben.
    Erst wurden sie verprügelt. Am zweiten Tag wurden ihnen Hände und Füße abgeschlagen. Am dreiundzwanzigsten Mai dreiundvierzig verbluteten auch die letzten der zwanzigköpfigen Einheit der so verhassten Division Wiking, die aus Deutschen und Söldnern aus allen Teilen der Welt bestand, während Sturmmann Schmelz sich beim Divisionsstab einfand, zu dem er hin befohlen worden war, und in Deutschland die Spinnstoff- und Schuhsammlungen für die Wehrmachtssoldaten begannen.
    Dieser Tag im Mai war viel wärmer als die anderen Tage dieses Monats. Erstaunt hielt Sturmmann Schmelz inne, spürte diese Stille, die Wärme und die Friedfertigkeit, und er fühlte sich neu geboren. Er blickte lange auf die eleganten Teetassen, aus denen kurz zuvor noch getrunken worden war, und nach und nach nahm er den ukrainischen Herrensitz wahr, in dem sich der Divisionsstab eingerichtet hatte, und als dieses ganze Abbild eines prächtigen Friedens Aufnahme in ihm gefunden hatte, da geschah etwas, das mein Großvater immer abfällig abgetan hatte: Sturmmann Schmelz ließ sich mit den Knien auf die unterste Stufe der Treppe fallen, und, ja, verdammt noch mal, er heulte. Er weinte still.
    „Beruhigen Sie sich jetzt aber, Sturmmann Schmelz“, rief ihm der stellvertretende Divisionskommandant, Obersturmbannführer Ledig, von oben zu, bevor dieser sich zu einem Untergebenen umdrehte, der hinter ihm stand und auf Sprecherlaubnis wartete: „Also, Weiß, wie sieht es aus im Raum Rostow?“
    Sturmscharführer Weiß schüttelte mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf: „Die dreiundzwanzigste Panzerdivision konnte die Stadt nicht halten. Schwere Abwehrkämpfe am Hauptbahnhof, aber dann Aufgabe der Stadt. Sie ist auf dem Rückzug. Eine ganze Batterie Stalinorgeln haben die Sowjets in Aufstellung gebracht. Keine Möglichkeit, die Stadt zu halten. Was befehlen Sie?“
    „Stalinorgeln, Stalinorgeln, immer diese verdammten Stalinorgeln!“, fluchte Obersturmbannführer Ledig: „Was ich befehle? Ich befehle, die Waffen des Gegners zu erobern und sie umzudrehen, das würde ich am liebsten befehlen, aber im Ernst: Berufen Sie eine Lagebesprechung ein. Die Dreiundzwanzigste soll abgelöst werden und sich in der Gegend von Makejewka auffrischen. Und ab! Zack, zack!“
    Sturmmann Schmelz war in der

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