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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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sogar beim Erklimmen von Bergen zu schlafen, und die Hoffnung auf langgezogene Ebenen, die Sehnsucht nach endloser Flachheit wurde für Sturmmann Schmelz zum alles beherrschenden Wunsch. Einige Male schlief er sogar beim Schießen ein.
    Er sprach nicht mehr, übersetzte seit dem Tod des Rottenführers Grass auch nichts mehr, war der Neue doch ein Brite, und Englisch konnten die Söldner eigenartigerweise alle, stellte Sturmmann Schmelz erleichtert fest, so dass er drei Wochen lang über ein einziges Wort nachdachte. Und einzig dieses eine Wort bewahrte ihn vor dem Irrsinn. Sobald er dieses Wort aussprach oder dachte, es vor sich hin flüsterte oder sogar auch aufschrieb, konnte er sich vergewissern, noch abstrahieren zu können. Es war das Wort ‚schier‘. Er lebte im Wort schier, dieses wunderbare deutsche Wort, das alles verzieh und Allen Hoffnung schenkte. „Schier daneben“, flüsterte er und lächelte: „Schier getroffen! Schier daneben! Schier getroffen!“
    Abwehrkämpfe im Donezgebiet folgten bis zum vierten März dreiundvierzig, Abwehrkämpfe in der Mius- und in der Donezstellung bis zum einunddreißigsten März dreiundvierzig, Abwehrkämpfe am mittleren Don schlossen sich an, und am fünfzehnten Mai fand Sturmmann Schmelz sich an genau der Stelle am Brückenkopf von Dnjepropetrowsk wieder, an der er vor einundzwanzig Monaten zur Ostfront gestoßen war. Vor einundzwanzig Monaten.
    Doch nun verteidigte er das westliche Ufer des Dnjepr, diesmal hatte die Division keinen Befehl, das östliche Ufer zu erobern.
    Ein einundzwanzig Monate währender Marsch, mein Großvater sagte immer, es gebe Erlebnisse, an denen jede Beschreibung scheitere, es gebe Erlebnisse, die nur vom Ende her erzählt werden können, und er sei als Ergebnis ein Soldat gewesen, der apathisch in diesem Schützenloch am Dnjepr gesessen habe, in das er siebentausendvierundsechzig Morde früher als aufrechter und willensstarker Mensch schon einmal gesprungen sei.
    Ja, er habe die Sprache der Männer im Krieg erlernt, ja, er wisse über Freundschaft alles, aber er habe dieses Wissen nie anwenden können. Das Erlernen habe ihn zu einem Kriegsverbrecher gemacht, was immer das auch war. In seinen Augen sei dieses Wort schlechthin doppeltgemoppelt, meinte er, doch es sei ja das Wort ‚schier‘ gewesen, das ihm den Verstand erhalten habe. Es war ja das Wort ‚schier‘, das Sturmmann Schmelz immer aussprach, wenn das Erlebte das Vorstellbare überragte.
    Die Division lag bereits seit sieben Wochen im Stellungskampf. Die Wikinger hatten sich entlang des Westufers des Dnjepr in den feuchten Sand eingegraben und verhinderten an dieser Furt eisern in zwei Schichten das Überqueren der Roten Armee.
    An dieser Stelle beschrieb der Fluss einen Bogen, und am gegenüberliegenden Ufer reichte der Birkenwald bis an das Wasser. Die Sowjets waren für die Wikinger immer erst zu sehen, wenn sie zum Sprung ins flache Wasser ansetzten, sodass die Wehrmacht sofort mit langen Maschinengewehrsalven gegenhalten musste. Sie fürchteten sich vor dem Augenblick, in dem die T vierunddreißig kamen oder die Stalinorgeln in Aufstellung gebracht waren; Granatwerfer, die bis zu fünfzig kleinkalibrige Raketengeschosse in der Minute abfeuern konnten und dies auch taten. Somit waren sie den deutschen Nebelwerfern weit überlegen. Es war diese Stalinorgel, die damals als die brutalste aller Waffen galt, eine Waffe, die jedes Gelände flächendeckend in Schutt und Asche legen konnte und dies auch tat.
    Sturmmann Schmelz stellte sich in seinem Erdloch manchmal vor, wie Berlin wohl aussähe, wenn diese Orgeln mit der Reichshauptstadt fertig sein würden. Verbittert und grinsend malte er sich die Friedrichstraße aus, die Allee Unter den Linden, und besonders zynisch wurde sein Bild von den Resten des Alexanderplatzes. Soll der Krieg nur auch zu ihnen kommen, dachte Sturmmann Schmelz, damit sie sehen, was sie angerichtet haben. Damit sie begreifen, was sie gewählt haben. Damit auch ihre Frauen Trümmer wegräumen und über Leichenteile stolpern müssen. Denn Strafe ist nun mal Teil gerechter Rechtsprechung.
    Aufgeschwemmte Leichen trieben weiterhin den Fluss hinunter, als hätte es diese einundzwanzig Monate gar nicht gegeben. Nur waren es keine Soldaten mehr, die da an Sturmmann Schmelz vorbeitrieben. Er sah Großmütter, Kleinkinder, er sah nackte Frauen und verwachsene Greise. Sie hatten Waffen aller Arten in den Händen, und Sturmmann Schmelz begriff, was der Name

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