Letzte Instanz
war ruhig, und ich
hatte keine Angst mehr vor weiteren mutwilligen Zerstörungsakten. Enrique
Chavez war auf der Flucht, falls man ihn nicht schon geschnappt hatte.
Allie schnarchte auf einem Polster am
Kamin. Ralph, für den nur die Couch in Frage kam, lag neben mir. Ich
streichelte ihn und dachte, wie in den frühen Morgenstunden nach Lis Benedicts
Tod, über Opfer und Täter nach. Und darüber, daß ich nun die meisten Gründe
kannte, warum...
D ritter T eil
W arum es geschah
27
An diesem Samstag um halb neun war die
Rotunde in der City Hall gesteckt voll. Die Sicherheitsvorkehrungen — seit dem
Mord an Bürgermeister George Moscone und Supervisor Harvey Milk stets sehr
umfangreich — wurden streng eingehalten. Während ich mich durch die Menge unter
der Kuppel nach vorne kämpfte, brach ein Stimmengewirr über mich herein, das
von den drei Bogengalerien zurückgeworfen wurde. Ich schaute hinauf, sah aber
keine bekannten Gesichter über die Geländer spähen.
Bevor mein Blick zu den Menschen in
meiner direkten Umgebung zurückkehrte, blieb er an einem der vielen Reliefs
hängen, die das Gebäude schmückten: den Initialen der Stadt, die so ineinander
verschlungen waren, daß das S dem Dollarzeichen ähnelte — sicher ein
ganz und gar unbeabsichtigter Effekt. Aber passend für eine Stadt, in der man
so tatkräftig dem Dollar hinterherhechelte. Ich lächelte und schaute die breite
Marmortreppe hinauf, die sich vom Fuß der Rundhalle zur Vorstandsetage der
Stadtverwaltung emporschwang. Und auf den Stufen entdeckte ich Richter Joseph
Stameroff.
Er stand in der Mitte, ein paar Stufen
höher als alle anderen, und blickte mit priesterlicher Würde auf eine Gruppe
seiner Bewunderer herab. Eine Frau arbeitete sich mit den Ellbogen nach vorn
durch, gefolgt von einem Mann mit einer Videokamera. Die Frau war Jess Goodhue,
Moderatorin der KSTS-TV-Abendnachrichten. Sie ging direkt auf Stameroff zu und
hielt ihm das Mikrophon vors Gesicht. Bevor er anfing zu sprechen, stieg er
noch eine Stufe höher. Jess Goodhue folgte ihm auf dem Fuß und drängte immer
weiter. Damit nötigte sie Stameroff, die nächste Stufe zu nehmen, um seinen
höheren Standpunkt zu behalten. Schließlich rettete ihn James Wald, ein
kahlköpfiger, zur Korpulenz neigender Mann, indem er sich zwischen Stameroff
und das Mikrophon schob. Während ich mich in ihre Richtung vordrängelte, schien
Jess das Interesse an Walds Worten verloren zu haben — wahrscheinlich die
Standardsprüche über das Tribunal für die Presse. Als ich sie erreichte, zog
sie gerade mit einem Kameramann davon.
»Wieso sind Sie selber hier vor Ort?«
fragte ich Jess. Als Moderatorin arbeitete sie selten draußen.
Sie lächelte, als sie mich erkannte.
»Hi, Sharon. Ich möchte eine Sonderreportage über das Tribunal machen.« Wenn
ihre Begrüßung auch herzlich war, zeigte sie sich doch leicht reserviert. Vor
einiger Zeit hatte ich Jess einmal aus einer wahrscheinlich katastrophalen Lage
gerettet, und wie die meisten Leute, die meinen, einem etwas schuldig zu sein,
das sie nie abtragen können, fühlte sie sich ein wenig unwohl in meiner
Gegenwart.
»Möchten Sie mir etwas über Ihre
Ermittlungen oder die Verhandlungsstrategie Ihrer Kanzlei erzählen?« setzte sie
hinzu.
Ich schüttelte den Kopf.
»Was ist mit diesem Mord in Chinatown,
gestern abend — Melissa Cardinal? Wo ist der Zusammenhang?«
»Kein Kommentar.«
Jess drängte nicht, sondern fragte mich
nur. »Aber Sie haben mit dem Richter gesprochen?«
Ich machte den Mund auf und wollte nein
sagen, aber genau in dem Augenblick erschien Rudy Valle auf dem obersten
Treppenabsatz und nickte Wald zu. Als Organisator des Tribunals ergriff Wald
nun Joseph Stameroffs Arm und führte ihn zu den Aufzügen.
»Zu dumm. Gerade wollte ich mit ihm
sprechen«, murmelte Jess und ließ ihren geübten Blick über die Menge wandern,
von einem Kopf zum nächsten. Sie suchte schon ihr nächstes Opfer. Ich folgte
ihrem Blick und entdeckte Jack und Judy, die in der Lobby an den Aufzügen auf
der Seite der Civic Center Plaza warteten.
Judy befand sich offensichtlich in der
Hinwendungsphase ihrer aus einem ständigen Hin und Her bestehenden Beziehung.
Sie hielt Jacks Arm umklammert und zerrte an seinem Ärmel wie eine hungrige
Straßenbettlerin. Jack ignorierte es. So, wie er den Mund verzog und ungeduldig
zu den Aufzügen starrte, hätte er sie wohl am liebsten abgeschüttelt. Jess
Goodhue marschierte auf sie los
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