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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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und ließ mich ohne Gruß am Fuß der Treppe
stehen.
    Jetzt kamen Rae und Hank aus einem der
Seitengänge, deren Wände noch mit Sperrholz verkleidet waren. Dahinter
verbargen sich die Schäden von dem Loma-Prieta-Erdbeben. Ich winkte. Hank
bemerkte mich, winkte zurück und zeigte auf Rae. Sie trennten sich. Hank ging
nach hinten, wo sich die Anmeldung befand. Rae kam auf mich zu. Während ich auf
sie wartete, sah ich noch einmal zu den Galerien hinauf. Im ersten Stock lehnte
Leonard Eyestone an einem Pfeiler und starrte über das Geländer mit seinen
goldenen Verzierungen herab.
    Sogar von hier unten konnte ich den besorgten
und zugleich geistesabwesenden Blick des Institutsdirektors erkennen. War er
vielleicht auf einen Punkt in einer anderen Zeit gerichtet, dreieinhalb
Jahrzehnte zurück? Dem traurigen Zug um seinen Mund nach zu schließen, dachte
er sicher über den Tod nach. Ich hätte viel dafür gegeben, seine Gedanken lesen
zu können.
    Rae stieß zu mir. »Hank holt sich eine
Tasse Kaffee und geht nach oben. Du solltest dich besser auch beeilen, bevor
dir jemand deinen Platz wegnimmt.« Man hatte mir einen Sitz in der Reihe direkt
hinter der Verteidigerbank zugeteilt.
    Ich nickte und folgte ihr zu den
Aufzügen.
    »Judy ist heute morgen in Topform«,
fügte Rae hinzu, als wir auf den Aufzug warteten.
    »Wie meinst du das?«
    »Hank und ich sind ihr und Jack auf der
Straße begegnet. ›Ach, ich weiß nicht, was ich ohne Jacks Unterstützung
anfangen sollte. Ach, Jack, du mußt mir einfach hier durchhelfen.‹« Sie
parodierte Judys gehauchten Tonfall. Sie brach ab und kicherte. »Gott, was für
eine Schauspielerin!«
    Ich runzelte die Stirn und wunderte
mich, daß Rae, die selbst eine so begnadete Schauspielerin war, solch eine
Bemerkung riskierte.
    »Ja, ich weiß«, fügte sie fröhlich
hinzu. »Nur wenn man selber eine ist, kann man das erkennen. Wie soll ich sonst
Dingen auf den Grund kommen, die offenbar niemand anders sieht?«
    Während ein leerer Aufzug ankam und wir
einstiegen, sagte ich: »Stört es dich nicht zuzugeben, daß du...«
    »Sicher, hin und wieder. Es ist
bestimmt nicht der erstrebenswerteste Charakterzug. Aber ich kenne mich
wenigstens, und ich stehe dazu. Judy hat entweder eine völlig verschrobene
Selbsteinschätzung, oder sie glaubt, sie kann jeden an der Nase herumführen —
und wenn du mich fragst, ich neige zu letzterem.«
    Während ich darüber nachdachte,
quetschten sich noch ein paar Leute in den Fahrstuhl, so daß die Tür sich nicht
schließen konnte, bis zwei wieder zurücktraten. »Glaubst du, Jack hat sie
durchschaut?«
    »Kluge Männer können so vollkommene
Idioten sein, wenn sie verliebt sind. Aber ich bin ziemlich sicher, er ist
dabei. Und wenn das so ist, wird es schmerzlich für ihn.«
    Ich erinnerte mich daran, wie laut Jack
vor einer Woche geworden war, als er wegen der Oberlichter gepoltert hatte.
Schon damals hatte ich seine Reaktion für übertrieben gehalten. Jetzt
allerdings fragte ich mich, ob er nicht seinen Ärger über Judys ähnliches
Verhalten auf Rae übertragen hatte. Falls Rae recht hatte, kamen wieder einmal
harte Zeiten auf Jack zu.
    Die Tür ging schließlich zu, und der
Aufzug fuhr in den dritten Stock. Er schien die Leute vor mir regelrecht
auszuspeien in Richtung der Telefonzellen und der Getränke- und
Süßigkeitenautomaten. Ich verlor Rae im Gewühl und eilte zum Nordkorridor,
unterwegs fischte ich meinen Ausweis aus der Tasche. Das Tribunal fand in einem
der größeren Sitzungssäle statt. Ich war dort selbst schon ein- oder zweimal
vor Gericht aufgetreten und hatte dabei viele Stunden in diesen Gängen
zugebracht, hatte allein auf den Eichenbänken gehockt oder mit anderen Zeugen
und Anwälten geschwatzt. Heute fiel mir auf, daß die gedeckten Geschäftsanzüge
fehlten, die hohen Absätze und die Aktenköfferchen. Das Publikum trug lässige
Kleidung, und die Unterhaltungen drehten sich eher um Tischreservierungen zum
Dinner und Theaterkarten als um Gegenklagen und außergerichtliche Klärungen.
Als ich mich ans Ende der Schlange stellte, die in den Verhandlungssaal
strebte, entdeckte ich Jed Mooney, von oben bis unten in Beat-Aufmachung. Er
winkte und lächelte, während ein Kontrolleur den Revers prüfte, den ich ihm
heute früh ins Haus geschickt hatte. Jetzt hatte ich alle am Fall direkt
Beteiligten gesehen, bis auf Louise Wingfield.
    Im Saal übten die goldfarbene
Eichentäfelung, das Behördengrün der Wände und die hohe Richterbank

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