Letzte Instanz
mit
ungewöhnlichen Umständen zu tun. Bis vor zehn Tagen hat die Angeklagte noch
gelebt. Ihre Tochter und andere Personen, die damals im ursprünglichen Prozeß
aufgetreten sind, sind auch heute anwesend. Eine Frau, die nach Auskunft der
Verteidigung eng mit dem Fall in Verbindung stand, ist gestern abend brutal
ermordet worden. Diese Umstände verleihen der vor uns liegenden Verhandlung
eine Unmittelbarkeit und mögliche Auswirkungen, wie wir sie beim Historischen
Tribunal selten erleben.«
Er hielt inne, um die Worte wirken zu
lassen, und fuhr dann fort: »Im Lichte dieser Umstände greife ich zu einem
ungewöhnlichen Mittel. Wir unterbrechen jetzt für fünf Minuten die Sitzung. In
dieser Pause mögen Anklage und Verteidigung noch einmal überdenken, ob sie den
Prozeß fortsetzen wollen. Wenn ich zurückkomme, werde ich sie nach ihrer
Entscheidung fragen, und diese wird dann endgültig und bindend sein.«
Valle stand auf, sah noch einmal auf
das Publikum herab, verließ den Richtertisch und ging in sein Zimmer.
Einen Moment lang verharrte die Menge
schweigend. Dann ging ein Gemurmel los — vor allem dort, wo die Pressevertreter
saßen. Ich sah Jack und Judy an. Er drehte sich zu ihr um und sprach leise mit
ihr. Sie hörte zu und schüttelte dann nachdrücklich den Kopf.
Ich sah zum Tisch der
Anklagevertretung. Stameroffs Blick war auf den leeren Richtertisch gerichtet,
seine Hände waren ineinander verschränkt. Mit eng zusammengekniffenen Augen
schien er die Konsequenzen abzuwägen, die Rückzug oder Fortsetzung haben
würden. Nach einer Weile drehte er den Kopf und sah sich suchend nach Judy um.
Sie hielt Jacks Arm umklammert und
sprach schnell, mit verbissenem und entschlossenem Gesicht, auf ihn ein. Jack
flüsterte etwas, und sie sah ihren Adoptivvater an. Ich konnte ihren
Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er zwang Stameroff, den Blick abzuwenden.
Judy sprach weiter auf Jack ein, und schließlich nickte er resigniert.
Das Gemurmel im Saal schwoll an,
verebbte und schwoll wieder an. Alle, Stameroff, Jack und Judy, starrten nun
zum Richtertisch. Als Richter Valle zurückkam, brachen die Gespräche ab, und
wir erhoben uns. Als wir wieder saßen, ließ der Richter einen Blick über die
Menge schweifen. Dann wandte er sich der Verteidigerbank zu. »Mr. Stuart, wie
haben Sie entschieden?«
»Die Verteidigung ist bereit, den
Prozeß zu führen, Euer Ehren.«
»Richter Stameroff?«
»Bereit zur Anklage, Euer Ehren.«
»Dann erwartet das Gericht jetzt Ihre
Eröffnungserklärungen.«
Joseph Stameroff stand auf, trat zur
Geschworenenbank und fing an zu reden. Verwundert hörte ich zu, als er — ohne
Notizen — Worte zu zitieren begann, die ich erst vor zwei Nächten im
Verhandlungsprotokoll gegen Lis Benedict gelesen hatte.
Offenbar vertraute er so sehr auf die
Methode, nach der er den Originalfall behandelt hatte, daß er plante, das Ganze
wörtlich zu wiederholen.
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Ich sah Stameroff an und hörte ihm
aufmerksam zu. Die Worte klangen zweifelsfrei wie die aus dem Protokoll. Selbst
seine Gesten wirkten einstudiert, so, als erinnerte er sich genau, wie er vor
sechsunddreißig Jahren Hände und Körper bewegt hatte. Es war, als befände ich
mich in der Aufführung eines Stücks, dessen Text ich erst kürzlich gelesen
hatte.
Rechts von mir saß Judy, die Fäuste so
geballt, daß die Knöchel weiß hervortraten, und starrte den Mann an, der sie
aufgezogen hatte. Ihr Gesicht wirkte wie versteinert. Die Anspannung hatte
tiefe Furchen gezogen. War es Stameroff bewußt, was er der Tochter antat, die
er seinerzeit aus den Trümmern dieser Tragödie geholt und zu sich genommen
hatte? War er sich dessen wirklich bewußt?
Kümmerte es ihn?
Das hielt ich nicht mehr länger aus.
Ich schrieb Jack eine kurze Notiz, gab sie ihm und ging hinaus.
Auf der Civic Center Plaza blies ein
kalter Wind. Er hatte die letzten Nebelreste zu einer grellweißen Wolkendecke zusammengeweht.
Ein paar abgerissene Gestalten hockten unter den knorrigen Platanen und auf den
Bänken am Brunnen, in dem sich das Licht spiegelte. Doch sonst war die Gegend
verlassen wie an allen Samstagvormittagen. Ich ging zur Market Street und
beschloß, die wenigen Blocks bis zu Loomis’ Fotoatelier an der Natoma Street zu
Fuß zu gehen.
Ich hatte als erstes am Morgen dort
angerufen und mit Nell Loomis, der Tochter des Instituts-Fotografen,
gesprochen. Sie hatte das Atelier nach dem Tod ihres Vaters geerbt. Sie sei den
ganzen Tag da,
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