Letzte Instanz
weil sie an einem eiligen Auftrag arbeite, hatte sie mir gesagt,
und ich könne vorbeikommen, wann ich wolle — aber möglichst erst nach zehn. Sie
hatte sich mißmutig und unfreundlich angehört, aber ich hoffte, daß das nur an ihrer
frühmorgendlichen Stimmung gelegen hatte.
Die Natoma Street ist eine der vielen
kleinen Straßen, die So-Ma — wie South of Market kurz genannt wird —
durchkreuzen. Hier finden sich überwiegend Lagerhäuser, Autogeschäfte und
kleinere Firmenniederlassungen und hier und da ein zufällig erhalten
gebliebenes viktorianisches Haus. Der Block an der Natoma Street zwischen der
Zehnten und der Elften Street war rein gewerblich genutzt. Ich fand die blaue
Tür, die Nell Loomis mir beschrieben hatte, auf halbem Wege, gleich neben einer
Fernsehreparaturwerkstatt.
Die Frau, die auf mein Läuten öffnete,
war ungefähr in meinem Alter. Ihr karottenrotes Haar war kurz geschnitten. Sie
trug kein Make-up bis auf einen dunkelgrünen Lidschatten. Eine Gummischürze
schützte Jeans und T-Shirt. Sie sah mich kaum an, winkte mich bloß zu sich ins
Halbdunkel. Dann schlug sie die Tür zu und sicherte sie mit zwei Riegeln.
»Verdammte Vorsichtsmaßregeln«, sagte
sie und ging um mich herum. »Man kann die Tür nicht einmal offenlassen, wenn
man nur zwei Fuß hinaus zu seinem Wagen etwas holen geht. Die City tut einfach
nichts, um das Problem der Kriminalität zu lösen, und wer bezahlt die Zeche?
Leute wie ich, die sich abstrampeln, um zu überleben. Achtung, Stufe.«
Der dunkle Flur führte ins Studio. Es
war ein großer Raum mit weißgetünchten Ziegelwänden, einem Sofa, Schreibtisch
und Sessel in einer Ecke, während der Rest mit Lampen, Stativen, aufgerollten
Hintergrundprospekten und allen möglichen anderen Requisiten vollgestellt war.
Mitten im Raum stand ein Turm Artischockenherzen in Dosen, wie man sie in
Supermärkten aufgebaut findet.
Nell Loomis sah, wie ich ihn
betrachtete, und sagte: »Das ist der erwähnte eilige Auftrag. Landesweite
Anzeigenkampagne, die heute abend mit der Lebensmittelausstellung beginnt.«
»Sie arbeiten überwiegend für die
Werbung?«
Sie hockte sich auf die
Schreibtischkante und bot mir das Sofa an. »Ich mache im Grunde alles, was mir
das Geld für die Miete einbringt. Bekomme leider nicht so viele Werbeaufträge,
wie ich gern hätte. Meistens bin ich mit dem Kram beschäftigt, den auch mein
Vater gemacht hat — Hochzeiten, Partys, besondere Ereignisse.«
»Gehört das Institut for North American
Studies zu Ihren Stammkunden?«
Sie verzog mißbilligend den Mund.
»Nicht mehr. Mein letzter Auftrag für das Institut war bei der Einweihung des
Hauses am Embarcadero. Diese Schweinehunde können sich finanziell so
übernehmen, daß sie in ein Millionen teures Haus ziehen, aber wenn ich meine
lumpigen kleinen Rechnungen bezahlt haben möchte, fühlen sie sich belästigt.
Wenn ich das Geld nicht bald bekomme, trete ich die Forderung an eine
Inkassofirma ab.«
»Wieviel schulden sie Ihnen denn?«
»Tausende. Sie kamen mir damit, daß sie
auf einen Großauftrag warteten und dann gleich zahlen würden, aber ich habe
noch keinen Cent gesehen. So, was möchten Sie nun von mir? Ich muß zurück in
die Dunkelkammer.«
»Wie weit reichen zeitlich Ihre
Geschäfte und Ihr Archiv zurück?«
»Bis ins Jahr einundfünfzig, als mein
Vater das Atelier eröffnete. Warum?«
»Wäre es möglich, einem Auftrag
nachzugehen, den er für das Institut erledigt hat?« Ich zeigte ihr das Foto aus
Melissa Cardinais Kaninchen-Vase und erzählte ihr auch von dem Bankett und dem
Empfang für Dulles.
Nell Loomis runzelte die Stirn. »Es ist
zwar möglich, das Zeug herauszusuchen, aber nicht heute. Die Unterlagen sind
alle in Kartons verpackt.« Sie zeigte nach oben zur Decke, und jetzt erst sah
ich die Empore mit dem Geländer am hinteren Ende des Raums. »Mein altes Atelier
an der Minna Street hat eine Menge abgekriegt bei dem großen Erdbeben. Habe
sechs Monate gebraucht, bis ich das hier fand. Seitdem habe ich mich
abgerackert, überhaupt über die Runden zu kommen. Ich habe es noch nicht
geschafft, alles wieder einzuordnen.«
»Was würde es kosten, die Unterlagen
und die Negative herauszusuchen, die ich brauche?«
Nell Loomis dachte nach und fuhr sich
mit dem Daumen über die Unterlippe. »Auf jeden Fall mein Stundenhonorar. Aber
dieser Eilauftrag...«
»Ich verstehe das, aber können Sie sich
nicht zwischendurch die Zeit nehmen — sagen wir, während Ihre Abzüge
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