Letzte Instanz
Bescheid gesagt hatte. Überraschenderweise war
Ted auch wieder an seinem Platz, saß auf seinem Sessel und starrte in die Luft.
Ich zögerte, wollte ihn nicht stören, aber er sah mich an und winkte.
»Störst mich nicht«, sagte er. »Ich
brüte nur.«
Ȇber etwas Speziellem oder ganz
allgemein?«
»Ach...« Er zuckte mit den Schultern.
Ich wartete, aber er sprach nicht
weiter. In den letzten sechs Monaten hatte ich einen besorgniserregenden Wandel
bei Ted bemerkt. Er war so tüchtig in seiner Arbeit und so engagiert wie immer,
aber manchmal war mir, als sei er überlastet. Er lachte und scherzte wie sonst
auch, doch sein Humor hatte oft einen bitteren Unterton. Und immer häufiger
erlebte ich ihn wie jetzt, leer in die Gegend starrend oder ziellos durch das
Haus wandernd.
Natürlich, sagte ich mir, waren es
heute harte Zeiten für einen Schwulen. Ted hatte seinen ältesten Freund durch
AIDS verloren. Und genauso war es ihm mit anderen Freunden und früheren
Liebhabern gegangen. Bisher hatte er — Gott sei Dank — negative
HIV-Testergebnisse, doch die Aussicht auf einen positiven Bescheid hing immer
wie ein Schatten über ihm, so daß Ted seit längerer Zeit keine neue Beziehung
mehr eingegangen war.
Die Einsamkeit, dachte ich jetzt, war
sein eigentliches Problem. Sich in die Arbeit zu stürzen, konnte die Leere
nicht ausfüllen, ebensowenig wie noch so viel Lachen, Scherzen und
Geselligkeit. So sehr wir ihn bei All Souls auch alle liebten, konnte ihm das
die Liebe eines bestimmten Menschen nicht ersetzen. Trotzdem mußte man
versuchen, ihm zu helfen...
Ich setzte mich auf den Rand seines
Schreibtischs. »Möchtest du mit mir reden?«
Er zuckte noch einmal mit den
Schultern. »Es gibt nichts zu bereden. Es ist immer dasselbe.«
»Ich bin immer für dich da.«
»Das weiß ich. Freunde wie du sind es,
die mich davon abhalten, mich am nächsten Dachbalken aufzuhängen.«
»Das bringt nichts — der
Oberlichtfritze sagt, das Dach ist kaputt. Erinnerst du dich?«
Er lächelte schwach.
»Übrigens«, sagte ich, »hat Tony Nueva
für mich angerufen, während du hier saßest?«
»Niemand hat angerufen, und ich sehe in
deinem Fach auch keinen Zettel.«
»Seltsam. Na ja, ich verschwinde jetzt.
Bis Montag.«
Als ich hinaufging, um Jacke und Tasche
zu holen, wunderte ich mich über Tony. Es war das erste Mal, seit er für mich
arbeitete, daß er eine Zusage nicht eingehalten hatte.
4
Die
in dieser Verhandlung vorgelegten Beweise werden zeigen, daß die Angeklagte,
Lisbeth Ingrid Benedict, ein Motiv, die Gelegenheit und die Mittel hatte,
Cordelia McKittridge zu ermorden. Sie werden ferner zeigen, daß Mrs. Benedict
raffinierte und gut durchdachte Vorbereitungen zur Durchführung ihres
Verbrechens traf und daß sie am 22. Juni zu dem Taubenhaus auf dem
Seacliff-Anwesen ging, dem Besitz des Institute for North American Studies, mit
dem vollen Vorsatz, die Frau zu töten, die sie dorthin gelockt hatte.
Die Protokollseiten mit den
Eröffnungssätzen des Stellvertretenden Staatsanwalts Joseph Stameroff lagen auf
meiner Küchenbar. Ich wollte sie zusammen mit dem abschließenden Statement vor
der Ankunft meiner Gäste in zwei Stunden durchgelesen haben. Jetzt unterbrach
ich meine Lektüre, um die klumpige grau-weiße Mixtur in der gußeisernen Bratpfanne
auf dem Herd umzurühren.
Stameroff hatte für die Geschworenen
überzeugend argumentiert, und er hatte, bei aller Weitschweifigkeit, gute
Beweise. Doch ein paar Lücken gab es, die sich erst mit der Zeit und aus der
eigenen Distanz heraus zeigten. Lücken, die vielleicht wieder diese oder jene s
Schneise für neue Ermittlungen öffneten.
Ich rührte die Pilzmischung noch einmal
um und widmete mich wieder dem Protokoll.
Der
Verlauf dieser Verhandlung wird zeigen, daß Lisbeth Benedict ein uraltes und
wenig originelles Motiv hatte: die Eifersucht einer betrogenen Ehefrau auf die
jüngere Geliebte ihres Mannes. Auch die Lösung des Problems eines treulosen
Ehemanns durch die Angeklagte war uralt und wenig originell. Doch die
Gelegenheit, die sich ihr bot, nutzte die Angeklagte auf erfindungsreiche
Weise.
Die Gelegenheit: Die vorzulegenden
Beweise werden ergeben, daß Mrs. Benedict von den wiederholten Treffen ihres
Mannes Vincent mit Miss McKittridge an dem Taubenhaus auf dem Anwesen der
Denkfabrik wußte. Sie wußte, daß er diese heimlichen Verabredungen eher
schriftlich als per Telefon arrangierte. Sie wußte, daß ihr Mann am Abend
Weitere Kostenlose Bücher