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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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willst diesen Fall also
wirklich nicht übernehmen.«
    »Nur auf deine ausdrückliche Anweisung.
Wie du sehr wohl weißt, habe ich noch einen ganzen Stapel von Fällen zu
bearbeiten. Ich möchte nicht unsere anderen Mandanten kurz abfertigen, nur
wegen Jacks... Untersuchungsprojekt.«
    »Du hältst nichts davon.«
    »Nein, und wahrscheinlich aus anderen
Gründen als du. Aber das ist meine Angelegenheit.« Sie goß uns Sherry nach und
ließ sich im Schneidersitz vor dem Kamin nieder. »Ich verstehe nur nicht, warum
du es überhaupt in Betracht ziehst.«
    »Also, erst einmal ist Jack da wirklich
mitbetroffen. Und es könnte ja auch eine Herausforderung werden. Aber
abgesehen von den durchaus unappetitlichen Aspekten stört mich noch etwas. Es
ist alles zu emotionsgeladen.«
    »Du meinst, was zwischen Jack und Judy
vor sich geht? Und zwischen der Mutter und dem Adoptivvater?«
    »Auch auf den Fall selbst bezogen.
Sogar im Gerichtsprotokoll war es zu spüren.«
    »Du bist doch noch nie vor Emotionen
zurückgeschreckt.«
    »Vielleicht lerne ich es gerade.«
Gestern nachmittag noch hatte ich Jack gesagt, ich hätte die schlimmen
Ereignisse des vergangenen Sommers noch einmal für mich durchgearbeitet und sie
damit hinter mich gebracht, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Im Herbst
danach war es am Tufa Lake zu weiteren gewalttätigen Szenen gekommen, die mir
erneut Wunden zugefügt und mich empfindlich gemacht hatten.
    In Wahrheit wollte ich nur nicht wieder
in einen Fall verwickelt werden, der mich emotional vereinnahmte. Allzuoft
wurden dabei Menschen in meiner Nähe verletzt. Ich spürte bereits, wie mich der
Fall in seinen Bann zog, obwohl er Jahrzehnte zurücklag und trotz der
Trockenheit der gerichtlichen Dokumente. All das bewirkte ein ausgesprochen
unbehagliches Gefühl in mir. Wenn mich Ereignisse, die so lange zurücklagen,
schon so aufsaugen konnten, wie sollte ich mich dann erst aktueller Ereignisse
erwehren?
    Doch das alles konnte ich Rae nicht
erklären, und so fügte ich bloß noch hinzu: »Im Augenblick fühle ich mich zu
nichts anderem fähig als zu ganz einfachen Routineermittlungen.«
    »Und die Ermittlungen für so ein
Historisches Tribunal sind keine Routinesache?«
    Ich zuckte mit den Schultern und starrte
in die kleiner werdenden Flammen im Kamin. Von den Holzscheiten leckten sie
jetzt in einem dunkleren Spektrum hoch: kobalt, smaragd, amethyst, blutrot...
    Blutrot und amethyst. Die Farbe des
Mordes, die Farbe der Erinnerung. Vielleicht wäre es am besten, die Tiefen, in
denen solche Erinnerungen schlummerten, wie bei Judy, unausgelotet zu lassen.
Oder doch nicht? War es besser, sie wachzurufen und dabei den Schmerz
unwillkommener Enthüllungen zu riskieren? Oder sie ruhen zu lassen und die
seelischen Auswirkungen verdrängter Geheimnisse in Kauf zu nehmen?
    Mir ging auf, daß ähnliche Fragen auch
für mein eigenes Leben galten. War es besser, den schmalen, aber sicheren
Mittelweg des Unbeteiligtseins zu gehen? Oder es darauf ankommen zu lassen,
mich mit ganzem Herzen in die Ermittlungen zu stürzen und dabei möglicherweise
unangenehme und schmerzhafte Konsequenzen in Kauf zu nehmen?
    Ich starrte weiter ins Feuer und
spürte, wie meine emotionalen Vorbehalte zu schwinden begannen. Zunehmend
bröckelten sie von außen nach innen ab. Ich geriet ins Schwanken. Unsicherheit
und Furcht nagten an mir. Ich wollte mich wehren, doch dann ließ ich sie zu.
Mit der Zeit würden sie zu einer unterschwelligen Angst werden, einer ständigen
Begleiterin durch alles, was vor mir lag. Diese Angst war eine alte Bekannte — die
einzige, die mich, wie ich mir kürzlich eingestehen mußte, ganz lebendig werden
läßt.
     
     
     

6
     
    Am Sonntagmorgen geht im Mission
District für eine kurze Zeitspanne ein Wandel vor sich. Kirchenglocken läuten.
In der Dolores Street parken nahe der Mission Street Wagen in Doppelreihe. Adrett
gekleidete Familien, alte Damen mit Hüten auf dem Kopf und Arbeiter im
Sonntagsanzug ergehen sich nach dem Gottesdienst auf den Bürgersteigen. Kinder
laufen in den Laden an der Ecke und kaufen Sauerteigbrote und dicke Zeitungen
ein. Junge Paare mit Kinderwagen ziehen an den Schaufenstern der Läden für
Billigmöbel in der Valencia Street vorbei. Und für ein paar Stunden ist die
Mission wieder ein alter, würdiger Platz, an dem Gottes Gesetze herrschen und
keine Sünde so arg ist, daß sie nicht in der Beichte vergeben werden könnte.
    Im Gegensatz dazu erschien mir die City
Amusement

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