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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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hat er gesagt?«
    »Er versuchte, wie er es nannte, mir
darzulegen, was so ein Scheintribunal für Judy bedeuten würde.«
    »Hat er Ihnen irgendwie gedroht?«
    »Nein.«
    »Was haben Sie ihm gesagt?«
    »Gar nichts habe ich ihm gesagt. Er hat
mir keine Chance gegeben. Das ist so seine Art.«
    »Sind Sie wegen der Anrufe hierher
geflohen? Raus aus dem Haus, damit Sie die Anrufe nicht entgegennehmen müssen?«
    Sie antwortete nur mit einer vagen
Geste und ließ sich von mir helfen, als sie nach dem Geländer griff.
    »Sie sollten nicht so nah an den
Klippenrand gehen, Lis.«
    Unsere Blicke begegneten sich. Ihr
Wissen, daß ich sie kurz vor dem Sprung gesehen hatte, machte sie noch
fragiler. Sie sagte nichts und sah fort. Nach einer Weile fragte sie: »Warum
sind Sie hier heraufgekommen? «
    »Um mit Ihnen zu reden. Ich werde in
Ihrem Fall ermitteln.«
    »Warum?«
    Ihre Reaktion überraschte mich, und ich
brauchte einen Moment, um eine Antwort zu finden. »Weil ich das Protokoll
gelesen habe und auf ein paar ungeklärte Dinge gestoßen bin, die genauer in
Augenschein genommen werden sollten. Weil es wichtig ist für Jack und Judy...
und für Sie.«
    Sie lachte trocken. »Was für mich
wichtig ist, muß Sie nicht kümmern, Miss McCone. Offensichtlich mögen Sie mich
nicht, und Sie glauben mir auch nicht. Das ist in Ordnung so, und ich kann
damit leben, solange es Ihre Arbeit nicht beeinflußt.«
    Statt über ihre Äußerung gekränkt zu
sein, fühlte ich mich erleichtert, weil die Dinge damit abgeklärt waren. »Sie
haben recht, aber ich muß meine Klienten nicht lieben und kann trotzdem
professionell für sie ermitteln. Und was den Punkt angeht, ob ich Ihnen glaube
oder nicht, so gibt es genügend ungeklärte Dinge und offene Fragen. Ich würde
den Fall nicht übernehmen, wenn ich nicht einige Zweifel am Vorgehen der
Anklage hätte.«
    »Anwälte übernehmen auch Mandanten, von
denen sie wissen, daß sie schuldig sind.«
    »Ein Anwalt hat die Aufgabe, für die
beste Verteidigung seines Mandanten zu sorgen, egal, ob er schuldig ist oder
nicht. Mein Job dagegen ist es, die Wahrheit herauszubekommen. Ich habe keine
Nachsicht gegenüber Leuten, die mich austricksen wollen oder mich belügen. Wenn
ich merke, Sie hoffen, daß ich Ihre Unschuld beweise, obwohl Sie Cordy
McKittridge ermordet haben, lege ich den Fall nicht nur nieder, sondern gehe
auch an die Öffentlichkeit.«
    »Dann sind Sie ja eine Idealistin, Miss
McCone.«
    »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich
bin.« Schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Nicht mehr nach alldem, was ich
gesehen hatte oder zu tun gezwungen war. Und schon gar nicht mehr nach dem, was
ich beinahe getan hatte.
    Zum Glück war Lis Benedicts Blick nach
innen gerichtet. So fragte sie nicht, was mich so verunsichert hatte. »Ich war
früher eine Idealistin«, sagte sie, »aber davon heilt einen das Gefängnis — und
zwar sehr schnell. Auch unser Justizsystem. Am Tag meiner Festnahme habe ich
aufgehört, an Gerechtigkeit zu glauben. Ich habe aufgehört, an Mitgefühl zu
glauben, als sie mich nach Corona brachten — dort saßen in den fünfziger Jahren
die verurteilten Frauen, bis es Zeit für die Gaskammer in San Quentin war.«
    »Und als der Gouverneur die Hinrichtung
aussetzte und Sie dann später begnadigte?«
    Sie lachte spöttisch. »Ich wußte, was
da lief.«
    »Was?«
    Ihr Körper versteifte sich, und sie gab
keine Antwort. Anscheinend hatte sie geheime Gedanken preisgegeben und dann gemerkt,
daß sie zuviel gesagt hatte. Doch zuviel worüber?
    Ich beobachtete sie und fragte mich, ob
ich ihr wohl eine Antwort entlocken konnte. Nein, besser brachte ich sie dazu,
über etwas anderes zu reden. »Wie ist das im Gefängnis?« fragte ich. »Kann man
sich je daran gewöhnen?«
    »In gewissem Maße, ja. Anfangs ist es
wie ein Sturz in eine völlig andere Welt, vor allem, wenn man so aufgewachsen
war wie ich. Natürlich sind schon die äußeren Umstände schlimm, aber schlimmer
ist es, keine eigenen Entscheidungen treffen zu können. Und am schlimmsten ist
das Gefühl, anders zu sein als die anderen Insassinnen. Nach einer Weile ändert
sich das. Man lernt, kleine Entscheidungen zu treffen: Was für eine Zahnpasta
kaufe ich mir diesen Monat? Welches Buch leihe ich mir diese Woche in der
Bibliothek aus? Womit träume ich mich heute nacht in den Schlaf?«
    Ich dachte an Judys Bemerkung über ihre
Tagträume. Offenbar hatte ihre Mutter sich auf die gleiche Weise das Leben
erleichtert.
    »Nach

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