Letzte Instanz
über. »Mrs. Benedict...«
»Sagen Sie bitte Lis. Ich bin
Förmlichkeiten nicht gewohnt.«
»Lis«, sagte ich. »Wenn Sie mich auch
beim Vornamen nennen? Ich muß Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, die klingen
könnten, als zweifelte ich an Ihrer Schilderung des Abends, an dem der Mord geschah.
Ich möchte Sie nicht kränken. Ich tue es nur, um Klarheit zu schaffen.«
»In Ordnung.«
»War die Lebensmittelvergiftung
wirklich der Grund für Ihre Absage zum Bankett mit Dulles?«
»Ja, ich war krank.«
»Und die Flecken, die Judy auf Ihrer
Kleidung sah — war das wirklich Tinte?«
»Ich war Kalligraphin und arbeitete an
einem Auftrag, bei dem ich auch mit roter Tinte schreiben mußte.«
»Sie haben gearbeitet, obwohl Sie zu
krank waren, um am Bankett für den Außenminister teilzunehmen?«
»Inzwischen fühlte ich mich besser.«
»Wo haben Sie an dem Auftrag
gearbeitet?«
»Wo...?«
»Nach Judys Aussage kamen Sie von
irgendwoher mit den Flecken auf dem Kleid nach Hause zurück.«
»Da hat Judy sich geirrt. Ein Kind, das
durch ein Geräusch geweckt wird, ist leicht etwas durcheinander.«
»Was für ein Geräusch?«
»Na ja, irgendeines.«
»Nein — ich meine Judy und was sie
speziell in dieser Nacht gehört hat.«
»Ich... weiß nicht.«
»Aber sie wurde davon wach...«
»Und sah mich im Erdgeschoß mit Flecken
auf dem Kleid und vermutete, daß ich draußen gewesen war. Normalerweise
verrichtete ich meine kalligraphischen Arbeiten an dem großen Tisch in der
Bibliothek.«
»Ich verstehe. Und soweit Sie wissen,
war an dem Abend niemand auf dem ganzen Anwesen außer Ihnen und Judy?«
»...Richtig.«
Mir gefielen ihre Reaktionen auf meine
Fragen nicht. Die meisten Menschen können eine Lüge nicht ganz verbergen. Sie
verraten sich mit Gesten, Veränderungen in der Haltung und der Stimmhöhe, mit
lauter kleinen Zeichen. In Lis’ Fall war es ein schwaches Zucken im rechten
Mundwinkel. Sie mochte mir noch so offen in die Augen schauen, dieses Zucken
hatte sie nicht unter Kontrolle, und bei den Fragen nach Judy und den Flecken
auf ihrem Kleid war es stärker geworden.
Lis verbarg mir etwas, aber was? Was
konnte so wichtig gewesen sein — und immer noch sein —, daß sie eher in der
Gaskammer gestorben wäre, als dieses Geheimnis zu lüften?
Während ich sie musterte, schlug sie
die Augen nieder und rieb die Wolle ihres Capes zwischen den Fingern.
Nach einer Weile fragte ich: »Fällt
Ihnen noch jemand ein, mit dem ich reden sollte?«
»Nein.«
»Gab es eine Freundin, der Sie sich
anvertraut haben?«
»Über was?«
»Über die Affäre Ihres Mannes mit Cordy
McKittridge. Über Ihre Gefühle ihr gegenüber.«
Sie erhob sich plötzlich und ging auf
den Klippenrand zu. Ich folgte ihr und hatte wieder dieses unbehagliche Gefühl.
Doch sie blieb in sicherem Abstand stehen und sah zur Golden Gate Bridge.
Hinter ihren rostroten Trägern lag eine Nebelbank, die sich bei Anbruch der
Dunkelheit über die Stadt legen würde.
Lis sagte: »Von hier aus kann ich fast
alles übersehen, nur nicht den Ort, an dem es geschah.«
»Vielleicht soll das so sein.«
»Das glaube ich nicht. Ich muß mich
diesem Alptraum stellen, wenn ich mich auf diesen Scheinprozeß einlasse.«
»Aber doch nicht, indem Sie auf
Seacliff hinabblicken und brüten. Sie würden ohnehin nicht mehr viel erkennen.
Es hat sich alles verändert.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht.«
»Lis, ich habe Sie etwas gefragt. Haben
Sie mit irgendwem über Ihre Gefühle gegenüber Cordy gesprochen?«
Sie starrte immer noch auf die Stadt
unter uns. Nach einer Weile sagte sie: »Ich habe mit zwei Menschen über Cordy
McKittridge gesprochen, nur mit zwei Menschen — meinem Mann und meiner
Tochter.«
»Und was haben Sie gesagt?«
Sie wandte mir ihren aquamarinblauen
Blick zu. Diesmal war nichts von dem Zucken in ihrem Mundwinkel zu sehen. »Ich
habe gesagt, daß ich wünschte, Cordy wäre tot. Ich sagte, ich würde ihr mit
Freuden das Herz aus dem Leib schneiden.«
7
»Was für eine Frau ist das, die so
etwas zu ihrer zehnjährigen Tochter sagt?« fragte ich Jack.
Er zuckte mit den Schultern. Man sah
ihm an, wie erschüttert er war.
Es war Montag morgen, ein paar Minuten
nach neun, und wir saßen in seinem Büro auf dem Sofa. Sein Schreibtisch war
noch immer mit Papieren übersät, aber sie sahen aus, als seien sie seit gestern
nicht mehr angerührt worden. Ich war gerade bei meiner dritten Tasse Kaffee
angelangt. Er hatte mindestens
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