Letzte Instanz
völlig aufgegeben. Er
hatte ihn nur betrieben, um sich von den Folgen seiner Scheidung abzulenken,
und meiner Meinung nach hatten die Verletzungen, die er dabei erlitten hatte,
ihn gelehrt, daß es schlimmere Schmerzen gibt als ein gebrochenes Herz.
Ich ging wieder nach unten in unsere
Bibliothek und zog die verschiedenen Telefonbücher hervor, die Ted dort
aufbewahrte. Beim ersten Durchblättern stieß ich auf keinen Zeugennamen aus Lis
Benedicts Prozeß. Ich schrieb mir Nummer und Adresse des Institute for North
American Studies auf. Dann ging ich in Jacks Büro zurück. Offenbar hatte er sich
für den Nachmittag freigegeben.
Nun gut, um Lis Benedict meine
Entscheidung mitzuteilen, daß ich mich ihres Falls annehmen würde, brauchte ich
ihn nicht. Das konnte ich auch allein tun. Ich beschloß, zu Fuß zur Wool Street
hinaufzugehen.
Die Bewohner von Bernal Heights waren
alle auf den Beinen: Sie arbeiteten im Garten, führten ihre Hunde aus, spielten
Ball mit den Kindern, hielten einen Schwatz mit den Nachbarn. Ich entdeckte
einen unserer Mandanten und blieb stehen, um seine Rosenbüsche zu bewundern. Eine
Frau, mit der sich Larry Koslowski bisweilen traf, stellte gerade einen
Staketenzaun auf. Ich hielt an und fragte, wie es ihr gehe. Die Wool Street lag
relativ verlassen da, bis auf eine freundliche schwarze Katze, die auf mich
zugesprungen kam und mich anmaunzte. Ich unterhielt mich mit ihr, während ich
weiter bis zur Mitte des Blocks hinaufstieg.
Meine sanftmütige Stimmung schwand, als
ich die Fassade von Judys Haus sah. Die Farbe, die der Nachbar über die
häßlichen Worte gestrichen hatte, überdeckte sie nur schwach. Sie waren jetzt
zu pink verblaßt, aber weiterhin leicht zu lesen. Als ich läutete, kam niemand
zur Tür. Ich läutete noch einmal und trat ein gutes Stück zurück. Falls jemand
aus dem Fenster schaute, konnte er so sehen, wer draußen stand. Aber niemand
zeigte sich.
Vielleicht hatten Jack und Judy
beschlossen, Lis fortzubringen. Vielleicht waren sie mit ihr in den Park oder
zum Lunch drüben in Marin gegangen. Dann fielen mir die ausgedehnten
Spaziergänge ein, die ihr der Arzt angeraten hatte. Am besten, ich stieg zum
Turm hinauf—ein gutes Training für mich, auch wenn sie nicht da wäre.
An diesem Nachmittag bevölkerten mehr
Leute als am Freitag die Anlage, aber es war nicht annähernd soviel Betrieb wie
in den pittoresken Vierteln der Stadt. Auf der gewundenen Straße begegnete ich
keinem Menschen. Nur weiter unten sah ich ein paar entfernte Gestalten die
Serpentinen hochkommen. Doch als ich die letzte Steigung erklommen hatte,
entdeckte ich dann Lis Benedict am Rand eines besonders steil abfallenden
Felsens.
Sie stand regungslos in ein schwarzes
Wollcape gehüllt, das in Falten bis zu ihren Waden hinabfiel. Die helle Sonne
legte einen leuchtenden Schimmer um ihr weißes Haar. Als ich nach dem Geländer
griff, blähte ein plötzlicher Windstoß das Cape zu weiten schwingenden Flügeln
auf. Lis beugte sich vor und balancierte auf den Zehenspitzen.
Plötzlich sah ich das Bild eines
Raubvogels vor mir, der sich vom Felsen aufschwingt und dann herabstößt, um
unten zwischen den Felsen ein kleines Tier zu schlagen. Ein unbehagliches
Gefühl beschlich mich, während ich mit der Hand über das Geländer fuhr.
Lis beugte sich weiter vor. Ich wollte
sie anrufen, doch dann beschleunigte ich lieber meine Schritte. Einen
Augenblick stand sie wie in der Schwebe am äußersten Rand des Felsens und sah
auf die Stadt hinab, die, jedenfalls für sie, wie aus einer anderen Zeit war.
Dann setzte sie die Füße wieder ganz auf und zog das Cape fest um sich. Ihr
Körper schien in den Falten zu versinken.
Ich atmete tief durch, ging langsamer
und entspannte mich. Ich redete mir ein, daß meine Angst dumm und unberechtigt
gewesen war, aber eigentlich wußte ich es besser.
Nach einer Weile wandte sich Lis von
der Klippe ab und kam in meine Richtung. In ihrem Gesicht stand Resignation,
und die verschwand auch nicht, als sie mich sah. Als ich fast bei ihr war,
stolperte sie. Ich faßte ihren Arm.
»Alles in Ordnung?« fragte ich.
Sie nickte.
»Wir haben Sie gestern abend vermißt.«
»Tatsächlich?« Sie schien es nicht
recht zu glauben.
»Ja. Wie ich hörte, hat es wieder eine
Schmiererei gegeben. Auch weitere Anrufe?«
Sie zögerte einen kurzen Moment, bevor
sie antwortete.
»Ja, drei gestern abend und heute
mittag wieder einen.«
»Und dazu den von Joseph Stameroff.«
»...Ja.«
»Was
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