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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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in ihr Büro gelegt. Seit mehr als zwei Jahren hatten wir uns
nicht gesehen, und so tauschten wir fast zehn Minuten lang erst einmal
Neuigkeiten und Klatsch aus. Dann kam ich zum Grund meines Anrufs. Ich
schilderte ihr kurz die Erfahrung, die Judy Benedict mit wiederauftauchenden
Erinnerungen gemacht hatte und fragte: »Passiert so etwas häufig? Und wie
präzis sind solche Erinnerungen?«
    »Um auf die erste Frage zu antworten:
Verdrängte Erinnerungen sind ein häufig auftretendes Phänomen, vor allem bei
mißbrauchten Kindern. Wurde diese Frau sexuell mißbraucht oder körperlich
mißhandelt?«
    »Das glaube ich nicht. Aber der Vater
war Alkoholiker und hat die Mutter oft geschlagen. Die häusliche Atmosphäre hat
sich also mißlich auf sie ausgewirkt.«
    »Und du sagst, sie hat das meiste von
dem vergessen, was mit dem Mord und dem Prozeß zu tun hat?«
    »Ja. Sie sagt, ihre Aussage höre sich
an, als wäre sie von jemand anderem.«
    »Das paßt zusammen. Wenn ein Kind unter
einem einzigen traumatischen Ereignis leidet, kann es das oft gar nicht
verdrängen. In diesem Fall dagegen, wo es sich um eine fortgesetzte
Traumatisierung handelt... Neigt die Frau zu Selbstbezichtigungen?«
    »Sie fühlt sich schuldig, weil sie
gegen ihre Mutter ausgesagt hat.«
    »Und wahrscheinlich wegen einer ganzen
Menge anderer Dinge auch noch. Kinder, vor allem solche, die auf irgendeine
Weise mißbraucht oder mißhandelt worden sind, neigen dazu, sich selbst die
Schuld an dem zu geben, was in ihrem Leben passiert.«
    »Okay«, sagte ich, »Ursache für die
Verdrängung war eine Serie von Ereignissen, die das Bewußtsein des Kindes nicht
verarbeiten konnte. Zum Schutz macht das Gedächtnis zu. Wie holt man die
Erinnerung wieder hervor?«
    »Bei Erwachsenen, deren Ich-Bewußtsein
stark genug geworden ist, um damit umzugehen, reicht manchmal schon ein kleiner
Auslöser, um die Erinnerungen wieder ins Bewußtsein zurückzuholen. So, wie bei
deiner Klientin, als deren Mutter in ihr tägliches Leben zurückgekehrt war. Es
gibt auch dramatischere Verläufe. Erinnerst du dich an den Mordprozeß unten in
Monterey vor ein paar Jahren? Den Fall Susan Nason?«
    »Ja.« Der Mord an der achtjährigen
Susan Nason blieb zwanzig Jahre ungeklärt, bis 1989 ihre beste Freundin sich
meldete und sagte, sie habe gesehen, wie ihr eigener Vater ihre Spielkameradin
getötet habe. Die lange unterdrückte Erinnerung kam hoch, als diese Freundin in
den Augen ihrer jungen Tochter den gleichen Ausdruck entdeckte, den sie bei
Susan kurz vor ihrem Tod gesehen hatte. Dieses Phänomen war von den gutachtenden
Psychologen so gut herausgearbeitet worden, daß das Gericht danach sofort auf
Mord erkannte.
    »Das war ein Schulbeispiel für eine
spontane Blockadelösung«, sagte Mary. »Und was die Genauigkeit solcher
Erinnerungen angeht, so sind sie oft klarer und detaillierter als normale, so
als wären sie eingefroren oder sonstwie konserviert gewesen. Manchmal
verschieben sie sich auch durch Schock oder Angst — dann bedarf es einiger
Interpretation, um an die Tatsachen heranzukommen —, aber meistens zeigt sich
eine echte Erinnerung schon an der Vielfalt der Details.«
    Ich überflog meine hingekritzelten
Notizen. »Du sagst, die Erinnerungsblockade löst sich, wenn es das
Ich-Bewußtsein eines Menschen aushält. Was passiert aber, wenn jemand heftig in
der Richtung angestoßen wird, bevor er bereit ist, mit dem Erinnerten
umzugehen? Kommt es dann trotzdem hoch?«
    »Möglich, und die Folge kann ein neues
Trauma sein. Worauf willst du hinaus, Sharon?«
    Ich erzählte ihr von Judys
nachdrücklichem Wunsch, mit mir nach Seacliff zu fahren. »Ich habe Angst, daß
sie dabei aus dem Gleichgewicht kommt.«
    Mary zögerte. »Ich kenne sie nicht, und
man kann nie Voraussagen, wie jemand reagiert. Es ist von Fall zu Fall ganz
unterschiedlich. Aber ich würde sagen, wenn sie so dringend den Wunsch hat, sich
zu erinnern, ist sie wahrscheinlich auch bereit. Ist sie in Behandlung?«
    »Nein. Ich habe versucht, das Thema
anzuschneiden, aber da hat sie völlig zugemacht.«
    »Und warum, meinst du?«
    »Ich halte sie für jemanden, der mit
seinen Problemen allein fertig werden will.«
    »Vielleicht ist sie fähig dazu.«
    »Vielleicht. Aber ich kann überhaupt
nicht sagen, wie stabil sie ist, vor allem jetzt nicht, nach dem Mord an ihrer
Mutter. Und ich bin in der Klemme. Wenn ich sie nämlich nicht mitnehme, geht
sie wahrscheinlich auf eigene Faust.«
    »Und das könnte ihr mehr

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