Letzte Instanz
Es war weniger ein Traum als ein Bild vor meinen Augen, als ich gerade
beim Einschlafen war. In dem Bild war ich im zweiten Stock des Hauses — in
Seacliff - und sah nachts aus dem Fenster meines alten Zimmers. Es herrschte dichter
Nebel. Die Brückenpfeiler waren angeleuchtet, aber im Nebel wirkten sie...
unwirklich. Und unter dem Fenster in der Dunkelheit war irgend etwas. Ich hatte
Angst, richtige Angst.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist blöd, aber wenn ich
nur davon rede, macht es mir angst.«
»Manchmal können innere Bilder einen
mehr ängstigen als die Wirklichkeit, vor allem wenn sie nicht ganz deutlich
sind. Da unter dem Fenster — war das ein Mensch? Ein Tier?«
»Ich weiß nicht.«
»Hat es sich bewegt? Stand es still?«
»Es bewegte sich. Ich fürchtete, es
könnte ins Haus kommen und herauf in mein Zimmer.«
»Und kam es?«
»Ich weiß nicht. Mehr habe ich nicht
gesehen.«
Ich dachte nach. Aus den Zeitungsbänden
in der Bibliothek hatte ich erfahren, daß in der Nacht des Mordes an Cordy
McKittridge ungewöhnlich dichter Nebel geherrscht hatte — ein Nebel, wie ich
ihn mir vorgestellt hatte, als ich vorige Woche vor dem Haus in Seacliff stand,
ein Nebel, wie ihn Judy jetzt beschrieb. Mir schien das Bild, das sie im
Halbschlaf gesehen hatte, tatsächlich eine wahre Erinnerung an jene Nacht zu
sein. Und das, was sich im Dunkeln bewegt hatte? Cordys Mörder?
Ganz plötzlich sagte Judy heftig: »Ich
wünschte, es käme alles zurück! Ich muß es wissen!«
So sehr ich das verstand und so sehr
ich die Lösung des alten Falles wollte, glaubte ich doch, sie warnen zu müssen.
»Vielleicht sollten Sie sich lieber nicht erinnern. Sie müssen einen
gewichtigen Grund gehabt haben, es so weit zu verdrängen.«
»Nein, ich will mich erinnern.
Ich kann mit dieser... Leere nicht länger leben. Mein Leben kann nicht
weitergehen, solange ich nicht weiß, daß Lis die Wahrheit gesagt und den Mord
nicht begangen hat.«
»Haben Sie wegen dieser Erinnerungen
schon mal mit jemandem gesprochen? Mit einem Therapeuten? «
Ihr Gesicht verschloß sich. Sie
schüttelte den Kopf.
»Vielleicht sollten Sie das.«
»Darf ich es auf meine Art machen?« Das
kam spitz, fast zornig. Noch bevor mir eine Antwort einfiel, wollte sie wissen:
»Wie gehen Sie nun weiter vor?«
Ich schluckte meinen Ärger hinunter und
sagte: »Eigentlich wollte ich noch einmal mit Ihrem Vater reden, aber nach
Ihren Äußerungen ist das wohl unmöglich. Ich muß auch noch einmal mit Leonard
Eyestone sprechen. Und ich möchte mich auf dem Anwesen in Seacliff umsehen.«
»Wie wollen Sie das machen?«
»Das Haus steht zum Verkauf. Ich rufe
meine Maklerin an und lasse sie eine Besichtigung arrangieren.«
»Bei einem so teuren Anwesen wie dem
müssen Sie vielleicht Referenzen nach weisen, ehe man es Ihnen zeigt.«
»Die Maklerin ist eine Freundin von mir,
sie findet schon einen Weg.«
»Warum wollen Sie überhaupt dorthin?«
»Um mir den Tatort anzusehen.«
»Ich habe keinen Fuß mehr auf das
Grundstück gesetzt, seit ich unmittelbar nach dem Mord mit meinen Eltern in die
Lake Street gezogen bin.« Widerstreitende Gefühle spiegelten sich in ihrem
Gesicht — Mißbehagen, ein Zögern und zum Schluß Eifer. »Sharon«, sagte sie,
»nehmen Sie mich mit.«
Die Bitte überraschte mich. Rasch
suchte ich nach einer Möglichkeit, es ihr wieder auszureden.
»Bitte«, setzte sie nach. »Vielleicht
hilft es mir, mich zu erinnern.«
»Ich weiß nicht, ob das klug ist.« Das
Wachrufen ihrer Erinnerung könnte ja auch eine heftige emotionale Krise
hervorrufen.
»Sie behandeln mich wie ein Kind, genau
wie mein Vater. Bei ihm heißt es dauernd: ›Judy, du willst es nicht wissen. Du
willst dich nicht erinnern.‹ Verdammt, ich will es wohl!«
»Ich meine nur, es ist vielleicht nicht
der richtige Weg, sich zu erinnern.«
»Lassen Sie das mich beurteilen.« Sie
schob ihr Kinn vor und fügte hinzu: »Wenn Sie mich nicht mitnehmen, gehe ich
allein. Mir wird jeder Makler nur zu gern das Anwesen zeigen, denn ich kann
unter dem Namen Stameroff auftreten.«
Unsere Blicke trafen sich. Ihrer war
unerschütterlich. Nach einer Weile sagte ich: »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Kaum war ich zu Hause, grub ich ein
altes Adreßbuch aus und rief Mary Norton an, eine alte Freundin aus der
College-Zeit. Sie arbeitete jetzt als Therapeutin an einer Klinik in der
Sacramento Street. Mary hatte gerade eine Gruppensitzung hinter sich, und man
hatte meinen Anruf
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