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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Knöpfe einer antiken Jukebox. Die Klänge der ersten Platte,
die er gewählt hatte, verfolgten mich bis auf die Straße: ›The Great Pretender‹.
    Das kleine Haus in der Wool Street lag
still und dunkel da, als ich ankam. Als ich läutete, fiel mir auf, daß die Häuser
in der Nachbarschaft ebenfalls dunkel waren. Dabei hätten die Fenster an diesem
warmen Abend doch offenstehen müssen. Ich hörte kein Radio, keine Musik, keinen
Fernseher. Ich kam mir vor wie die einzige Überlebende einer Atomkatastrophe.
    Nach einer halben Minute hörte ich
Schritte, und Judy öffnete die Tür. Sie hatte sich wieder in das schwere Cape
ihrer Mutter gehüllt und hielt einen silbernen Kerzenleuchter in der Hand. Auf
meinen fragenden Blick sagte sie: »Wir haben gerade Stromausfall.«
    Das kam immer wieder in Teilen der
Stadt vor, in denen das Stromnetz dem heutigen Verbrauch noch nicht angepaßt
und deswegen überlastet war. Heute waren wieder einmal zu viele Ventilatoren
und Klimaanlagen in Betrieb gewesen, und dem hatten die Transformatoren nicht
standgehalten. »Zum Glück haben Sie Kerzen und Streichhölzer gefunden«, sagte
ich beim Eintreten. »Meine sind nie da, wenn ich sie brauche.«
    Judy gab keine Antwort, schloß nur die
Tür und führte mich durch den Flur am Besuchszimmer vorbei. In ihrem langen
schwarzen Cape und mit der Kerze in der erhobenen Hand erinnerte sie mich an
eine Figur aus einem Horrorfilm der Billigklasse. Ich war überrascht, wohin sie
mich führte: in das Zimmer, in dem Lis gestorben war.
    Judy stellte die Kerze zu einer anderen
auf den Tisch und ließ sich in dem Sessel nieder, in dem ich bei meinem letzten
Gespräch mit ihrer Mutter gesessen hatte. Lis’ Sessel lag noch immer umgestürzt
auf dem Boden. Die Kreidestriche, die ihre Position markierten, waren zwar
etwas verwischt, aber noch gut zu erkennen. Die Scherben der Kaffeetasse und
der Glastür lagen noch auf den Fliesen verstreut. Vorsichtig tastete ich mich
zu einem Stuhl vor und setzte mich vor die Sperrholzplatte, mit der die
Türöffnung vernagelt war. Eines ist klar, dachte ich, zum Aufräumen war Judy an
diesem Abend sicher nicht hergekommen.
    »Jack sagt, dieser Scheinprozeß
beunruhigt Sie sehr«, sagte ich.
    Sie zuckte mit den Schultern und raffte
das Cape um sich zusammen.
    »Heißt das ja oder nein.«
    »Ist das von Bedeutung?«
    Es ärgert mich jedesmal, wenn jemand
eine meiner Fragen mit einer Gegenfrage beantwortet, und heute war es nicht
anders. »Es ist von Bedeutung — für Jack wie für mich. Wir lassen unsere
gesamte sonstige Arbeit für Sie liegen, da könnten Sie mir wenigstens jetzt eine
eindeutige Antwort geben. Warum möchten Sie Ihre eigene Rolle vor dem Gericht
spielen?«
    Sie schwieg. Ihre Finger spielten mit
einer Falte des Capes. Durch das offene Fenster über der Spüle fuhr ein
Windstoß und ließ die Kerzen flackern. Ihr Licht verzerrte die Schatten und
spiegelte sich in den Glasscherben am Boden. Einen Moment lang ging mir die
Vision durch den Kopf, die ich vom Innern des Taubenhauses gehabt hatte:
Schatten huschten über die rohen Backsteinmauern, tödlich aufblitzendes
Metall...
    Ich schüttelte den Kopf, um diese
Gedanken zu vertreiben, und konzentrierte mich auf Judy. Selbst in diesem
Halbdunkel, das alle Konturen weicher erscheinen ließ, wirkte ihre Haut schlaff
und trocken. Die Falten, die wie Klammern ihre Mundwinkel begrenzten, waren
tief eingegraben. Das helle Haar hing ihr in leblosen Strähnen um die Stirn. Es
war, als sähe ich ihre Mutter vor mir.
    Ich blieb hartnäckig. »Judy, warum?«
    »Wer könnte die Rolle besser spielen
als ich? Wer sonst weiß, was ich vorhabe? Ich muß nicht erst instruiert werden.
Das würde Jack eine Menge Zeit sparen.«
    Ich vermutete, daß Jacks Zeitersparnis
nur ein Vorwand war. »Da steckt noch mehr dahinter.«
    Schweigen.
    »Warum sind Sie nicht, wie verabredet,
zu Jack in die Remedy-Bar gekommen?«
    »Ich hatte keine Veranlassung dazu.«
    »Das ist nicht fair ihm gegenüber. Er
empfindet sehr viel für Sie.«
    Sie seufzte, als sei der Gedanke an
seine Zuneigung bloß eine Last. Der Seufzer war reichlich theatralisch und ließ
mich einen raschen Rückschluß ziehen.
    »Hat der Plan, sich selbst zu spielen,
etwas mit der einen großen Vorstellung zu tun, die Sie gestern erwähnt haben?
Diese eine Vorstellung, die alles verändert hätte?« fragte ich.
    »...kann sein. Aber es ist noch mehr.
Wenn ich den Prozeß noch einmal durchmachen könnte, würde vielleicht

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