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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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zulassen.«
     
     
     

21
     
    Meine
Tochter! Es ist an der Zeit, dem allen ein Ende zu machen. Solange ich lebe,
wirst Du immer wieder Erinnerungen auferstehen lassen, die besser begraben
blieben. Und, offen gesagt, ich bin müde geworden, Dich vor ihnen zu bewahren.
Ich bin müde, des Erinnerns müde, der Schrecken müde, die in mir leben, ja,
müde des Lebens selbst. Jahrelang habe ich geschwiegen, und das will ich auch
weiterhin tun. Ich habe mich auf einen Handel eingelassen, wenn auch auf einen
billigen, aber ich will dazu stehen, in unser beider Interesse. Was ist besser,
Deine Mutter für eine zu Unrecht wegen Mordes Verurteilte zu halten oder zu
wissen, was für eine verabscheuungswürdige Kreatur sie ist? Nur Zeit und
Verständnisbereitschaft können eine Antwort darauf geben, und uns fehlt beides.
Wie könntest Du verstehen, daß ich den Brief fälschte, der die Frau in die
tödliche Falle lockte? Daß ich in jener Nacht zum Taubenhaus ging, bewaffnet
mit Talismanen gegen Unglück? Wie könntest Du meine Wut und meine Enttäuschung
verstehen und dieses schreckliche Gefühl, schließlich doch die Dumme zu sein?
Das Wissen, daß sie, wenn ich nicht handelte, für alle Zeit die Gefühle Deines
Vaters beherrschen würde? In einem geheimen Winkel Deines Herzens hast Du das
immer gewußt, aber ich habe nie gewagt, Dich danach zu fragen. Und ich kenne
auch Deine Wut und Deine Enttäuschung sehr genau.
    Nimm die Dinge, wie sie sind, Judy.
Nimm mich, wie ich bin. Und verzeih mir. Deine Dich liebende Mutter — Lis.
     
    Ich sah von den dünnlinierten Blättern
auf. Judy hatte sich wieder beruhigt und beobachtete mich. Ihre Augen hinter
den Brillengläsern, in denen sich das Kerzenlicht spiegelte, waren
undurchdringlich. »Sehen Sie?« sagte sie. »Nun hat sie doch noch gestanden.«
    »Es ist ein Brief voller Selbstbezichtigungen,
aber ich halte ihn nicht unbedingt für ein Geständnis.«
    »Es steht doch alles da, schwarz auf
weiß.«
    »Sie gibt zu, den Brief geschrieben zu
haben, der Cordy nach Seacliff lockte. Sie gibt zu, zu dem Taubenhaus gegangen
zu sein. Aber sie schreibt nirgendwo: ›Und ich ermordete Cordy.‹«
    »Ja — typisch Lis. Sie verschleiert die
Wahrheit.«
    »Das glaube ich nicht... Was hat es mit
diesem Handel auf sich?«
    Judy zuckte mit den Schultern.
    »Und mit den »Talismanen gegen Unglück»?«
    »Ich nehme an, sie meinte die
Gartenschere.«
    »Und dann sagt sie, Sie hätten es immer
gewußt. Immer was gewußt?«
    »Immer den Verdacht gehabt, daß sie es
getan hat.«
    »Sie sagt gewußt.«
    »Eine Frage der Ausdrucksweise.
Ungenaue Wortwahl.«
    »Das bezweifle ich. Dieser Brief war
ihr sehr wichtig. Kein Wort ist gestrichen, keine Schreibfehler, keine Zeichen
von Hast. Es würde mich nicht wundern, wenn sie ihn mehr als einmal geschrieben
hätte.«
    »Was wollen Sie damit sagen? Daß Sie
immer noch glauben, Lis habe Cordy nicht getötet?«
    »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.
Aber dieser Brief läßt keinerlei Schlußfolgerungen zu.«
    Judy schwieg für einen Augenblick.
Schließlich sagte sie: »Gut, jetzt wissen Sie, warum ich mit diesem Prozeß
weitermachen muß. Ich muß es dringender denn je wissen.«
    »Und es kümmert Sie nicht, ob es dem
Andenken Ihrer Mutter schadet?«
    »Hat es sie je gekümmert, was mir
schadet? Sehen Sie sich doch den Anfang des Briefs an. Sie schreibt eindeutig,
daß sie sich umbringt, weil sie müde ist, mich vor der Wahrheit zu schützen!«
    »Wie gesagt, voller
Selbstbezichtigungen.«
    »So war Lis. Sie spielte die
Märtyrerin. Ihr erstes Martyrium war die Alkoholsucht meines Vaters, waren sein
Fremdgehen und seine Mißhandlungen. Das zweite Martyrium war die fälschliche
Mordanklage. Dieser Brief klingt jetzt so, als habe sie sich mit ihrem
Märtyrertum fast selbst in die Gaskammer gebracht — und mich damit vor Gott
weiß was geschützt.«
    Ich sah mir den Brief noch einmal an.
»Ich frage mich, was das für ein Handel war. Er stützt die Vertuschungstheorie.
Und es paßt zu einer Äußerung, die sie bei einem unserer ersten Gespräche
machte — daß sie, als sie begnadigt wurde und nicht in die Gaskammer mußte, ›wisse,
was da laufe‹.«
    »Sie meinen, der Handel bestand darin,
daß sie ins Gefängnis ging, aber nicht exekutiert wurde? Als Gegenleistung
wofür?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Mit wem hat sie den Handel
abgeschlossen? Mit meinem Adoptivvater?«
    »Nicht sehr wahrscheinlich. Er selbst
war damals noch nicht so einflußreich.

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