Letzte Instanz
meine
Erinnerung zurückkehren. Dann wäre die ganze Sache endlich abgeschlossen.«
»Ich verstehe. Warum sind Sie heute
abend hierher gekommen? «
»Ich mußte nachdenken.«
»Hier?«
»Hier so gut wie anderswo. Besser
sogar. Ich fühle mich hier Lis näher.«
Lis näher, in dem Zimmer, wo sie
gestorben war und wo alles noch unverändert war? »Worüber haben Sie
nachgedacht?«
Zu meiner Überraschung fing sie an zu
weinen — lautlos und mit fest zusammengepreßten Lippen. Die Tränen rannen unter
ihren Brillengläsern hervor, zogen Spuren auf den Wangen und tropften ihr
unbemerkt vom Kinn. Und dann kamen die Worte, stockend und zögernd, immer
wieder unterbrochen von schluchzendem Atemholen.
»Sie lag da... auf dem Boden, mit der
Pistole. Lag da, aber... war nicht mehr da. Und der Grund... der Grund, warum
sie ihn mir hingelegt hat. Ich habe ins Zimmer geschaut und den Brief gesehen...
dort, für mich.«
Sie zeigte in meine Richtung und wollte
mir damit zeigen, wo sie gestanden hatte. »Dann waren Sie es, die die
Tür eingeschlagen hat«, sagte ich.
»An der Haustür lag die Kette vor. Sie
hatte mich nicht erwartet. Aber ich machte mir Sorgen. Ich hatte mein
Flugticket für die Nachtmaschine an eine Bekannte in New York verkauft und
einen früheren Flug genommen. Und als ich hier ankam...«
»Sind Sie über den Weg zur Terrasse
gegangen, haben hineingesehen und Lis’ Körper am Boden gesehen.«
»Ich habe die Tür mit einem Stück
Kaminholz eingeschlagen... es war so laut. Zu spät. Sie war schon tot. Lag so
unbeweglich da. Vielleicht hat sie Frieden gefunden. Glauben Sie, daß sie ihn
endlich gefunden hat?«
»Ganz bestimmt. Was haben Sie dann
getan?«
»Auf dem Tisch lagen ein paar Blätter
Papier. Von einem der Blöcke, die sie mir immer zur Schule mitgegeben hatte.
Darauf ihre Handschrift... ein Brief meiner Mutter, an mich adressiert.«
Ein Abschiedsbrief, dachte ich.
»Ich konnte ihn nicht lesen«, sagte
Judy. »Ich habe ihn genommen und in meine Handtasche gesteckt. Und dann... dann
bin ich weggerannt.«
»Wohin?«
»Ich habe mich ins Auto gesetzt. Bin
lange herumgefahren. Weit hinunter nach Süden den Strand entlang, bis zu den
Höhlen... San Gregorio. Ich erinnerte mich an glückliche Zeiten, als Mama und
Daddy dort... Ich habe lange auf den Felsen gesessen, dann zwang ich mich, zum
Auto zurückzugehen und den Brief zu lesen. Nach einer Weile kehrte ich wieder
nach Hause zurück und rief Jack an.«
»Warum haben Sie ihm nichts von dem
Brief erzählt und davon, daß es Selbstmord war?«
»Ich konnte nicht. Wegen der Dinge, die
sie geschrieben hatte.«
Judy hatte aufgehört zu weinen. Sie
strich sich über das feuchte Kinn, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
Als sie die Hände sinken ließ, sah ich ihren trostlosen Blick, der in die Ferne
gerichtet war. Schnell schob sie wieder die Brille davor.
»Als dann die Polizei kam«, sagte ich,
»haben Sie sie im Glauben gelassen, Lis sei ermordet worden.«
»Ja.«
»Warum?«
Schweigen.
»Judy, was stand in dem Brief?«
Wieder Schweigen.
»Haben Sie ihn jemandem gezeigt?«
»Nein.«
»Darf ich ihn sehen?«
Sie hob abwehrend die Hände und ließ
sie in den Schoß zurückfallen. Einen Augenblick lang lagen sie schlaff da. Dann
verkrampften sie sich, zerrten und rissen am Stoff ihres Capes. Ihr Mund verzog
sich in plötzlicher Wut.
»Ich kann ihn niemandem zeigen! Sie hat
alles verhöhnt, was ich je für sie zu tun versucht habe. Sie hat gelogen,
gelogen und gelogen... Sie hat mein Leben zerstört !«
Ich stand auf, ergriff ihre Hände und
versuchte, sie zu beruhigen. Sie stieß mich weg, stand auf, zerrte sich das
Cape von den Schultern, schleuderte es auf den Boden und trat es mit Füßen.
»Ich hasse sie! Mein ganzes
Leben lang habe ich sie gehaßt. Ich habe mich schuldig gefühlt, und sie hat es
zugelassen. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, es wiedergutzumachen, und
sie nahm alles an, was ich ihr gab. Und dann ging sie hin und machte mit dem
verdammten Brief alles zu einer Farce!«
»Haben Sie ihn noch?«
»Aber sicher! Glauben Sie, ich würde
mich von diesem letzten kostbaren Geschenk meiner Mutter trennen?«
»Kann ich ihn sehen?«
Sie schüttelte den Kopf. In ihrem
Gesicht standen noch immer Wut und Sarkasmus. Dann fing sie plötzlich wieder an
zu weinen.
»Also, bitte«, sagte sie nach einer
Weile. »Er steckt in meiner Handtasche. Holen Sie ihn heraus. Eigentlich wollte
ich das nie
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