Letzte Instanz
vor. Also sah
ich mich in der Dunkelheit gut nach allen Seiten um, während ich zu meinem Auto
ging — und spottete nicht einmal darüber.
20
Doch was hatte das, was ich gerade
erfahren hatte, mit dem McKittridge-Mord zu tun?
Diese Frage stellte ich mir, als ich
vor dem Haus der Joslyns in meinem MG saß. Hatte Melissa wie ihr Stiefbruder
Roger Woods’ Neigungen für die Kommunisten gehabt? War sie vielleicht sogar
Parteimitglied gewesen? Wenn ja, was hatte das zu bedeuten? Ganz bestimmt
hatten die linken Neigungen einer Wohnungsgenossin wenig zu tun mit der
brutalen Ermordung einer einundzwanzigjährigen Frau, die wohl mehr für
Cocktail-Parties übrig hatte als für politische Parteien.
Oder war Cordy politisch stärker
engagiert gewesen, als ich vermutete? Ich wußte noch immer nicht, wie sie
Melissa kennengelernt hatte. Was wäre, wenn...?
Im Besuchszimmer der Joslyns ging das
Licht aus. Ich startete den Motor und sah in der Armaturenbeleuchtung auf meine
Armbanduhr. Zwanzig vor zehn. Noch nicht zu spät, um bei All Souls vorbeizufahren
und die Sache mit Jack durchzusprechen.
Als ich ankam, saßen Rae, Ted und Pam
Ogata vor dem Fernseher im Empfang und sahen sich auf einem Kabelkanal einen
alten Film mit Edward G. Robinson an. Ich blieb in der Tür stehen und fragte
nach Jack.
»Versuch es im Remedy«, sagte Rae. »Er
war dort mit Judy verabredet.« Sie wandte sich wieder dem Fernseher zu,
schüttelte dann den Kopf und stand auf. »Wenn du möchtest, gehe ich mit dir
hin. Dieser Film ist deprimierend.«
Auf dem Weg zur Mission Street
berichtete ich ihr von meinem Besuch bei den Joslyns.
»Eigenartiger Zufall«, meinte sie, »daß
Adah dir genau einen Tag, bevor du diese Information brauchtest, von ihren
Eltern erzählt hat.«
»Das sage ich ja immer schon, SIE da
oben sorgt für uns.« Ich zeigte zum Himmel.
Wir bogen in die Mission Street und
schlängelten uns durch die Menge zur Remedy Lounge, einen kurzen Block weiter.
Heute abend war alles unterwegs, was Beine hatte: Man stand in Türeingängen
oder um Autos zusammen, trank und redete. Aus den Bars und Clubs drang Musik
von Heavy Metal bis zu mexikanischer Salsa-Musik auf die Straße. Betrunkene
torkelten den Gehsteig entlang. Junkies schlichen durch die Dunkelheit. Alte
Menschen beobachteten Vorübergehende mit hastigen und ängstlichen Blicken.
Parkplatzsucher und Streifenwagen zogen vorüber. In San Francisco sind die
Nächte selten warm, selbst wenn es tagsüber heiß gewesen ist, und die Leute
genossen die unerwartete Gelegenheit, jeder auf seine Weise.
Das Remedy war dagegen fast leer. Nur
vier Gäste hockten an der von vielen Ellbogen abgewetzten Bar. Ihr Besitzer,
Brian O’Flanagan, stand in der Nähe des Eingangs, nippte an seinem Kaffee und
sah aus dem Fenster. Er begrüßte uns, und als er Rae sah, seinen Lieblingsgast,
leuchteten seine Augen.
Jack saß allein in der Nische am Ende
der Lounge und hielt sich an seinem Bier fest. Vor ihm lag, gefaltet oder
zerrissen, ein Häufchen nasser Cocktail-Servietten. Von Judy war nichts zu
sehen. Als wir auf ihn zu gingen, sah er hoffnungsvoll auf. Doch dann machte
sich wieder Enttäuschung auf seinem Gesicht breit, und seine Miene verfinsterte
sich.
»Sei mir gegrüßt«, sagte Rae und
rutschte zu ihm in die Nische.
Jack grunzte nur.
Ich setzte mich gegenüber. »Wo ist Judy?«
»Ich will verdammt sein, wenn ich es
weiß.« Seine Lippen wurden schmal, während er nach dem Bier griff. »Sie hat
gesagt, sie kommt um neun.«
»Vielleicht ist im Theater etwas
dazwischengekommen.«
»Ich habe angerufen. Dort ist sie
nicht.«
Brian kam an den Tisch und stellte mir
ein Glas Wein, Rae ein Bier hin. Soweit ich weiß, ist sie der einzige Gast, dem
Brian etwas am Tisch serviert — und nur wer in ihrer Begleitung ist, erfährt
die gleiche Ehre. Nachdem ich mir das über ein Jahr lang neidvoll angesehen
hatte, habe ich ihn schließlich nach dem Grund dieser Vorzugsbehandlung
gefragt. Brian hat nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Sie hat etwas aus
dem alten Kalifornien an sich.« Nachdem Rae ihre irische Abstammung ebenso hegt
und pflegt wie ich mein Achtel schoschonischer, fehlte mir allerdings der rechte
Zugang zu dieser Behauptung. Aber ich gestehe, daß es ganz nett ist, im Remedy
ab und zu mal richtig bedient zu werden.
Als Brian wieder hinter der Bar war,
fragte ich Jack: »Wo könnte denn Judy deiner Meinung nach sein?«
Er zögerte einen Moment, bevor er
sagte:
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