Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
mehr
versprechen, als Sie halten können ?
     
     
     

22
     
    Am Donnerstag morgen hatte ein Haufen
Abfall vor meiner Tür gelegen. Am Freitag stand Richter Joseph Stameroff in
seiner grauen Sicherheitslimousine davor. Als ich die Stufen hinunterging,
stieg der Chauffeur aus und öffnete die hintere Tür. Stameroff winkte mir,
einzusteigen. Ich folgte seiner Einladung, weil ich bezweifelte, daß ein
Richter unseres Obersten Gerichts mir vor den Augen neugieriger Nachbarn etwas
antun würde. Die gingen nämlich gerade zur Arbeit und hatten den Wagen sehr
genau im Auge.
    Auch Stameroffs Gesicht war, wie das
Judys am Abend zuvor, sehr angespannt. Zwar stand noch immer Arroganz in seinen
Augen, doch zugleich waren sie von Kummer und Sorge umwölkt. »Ich bin
gekommen«, sagte er, »um Sie ein letztes Mal zu bitten, diesen Scheinprozeß zu
stoppen.«
    »Das kann ich nicht. Sie haben selbst
dafür gesorgt, daß er stattfindet, indem Sie sich eingemischt haben.«
    »Miss McCone, ich würde mich nur allzu
gern daraus zurückziehen. Und ich habe bei Ihnen eine gewisse...
Charakterstärke festgestellt. Wenn Sie wollten, könnten Sie den Prozeß
stoppen.«
    »Vielleicht, wenn es nur um Jack Stuart
ginge. Aber Judy will entschlossen weitermachen. Haben Sie je versucht,
sie aufzuhalten, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte?«
    Er seufzte. »Versucht, ja. Mit Erfolg?
Nein.«
    »Sie hat Ihnen eine Menge Ärger gemacht
im Laufe der Jahre, nicht? Ich hoffe, der Handel, den Sie mit Lis Benedict
eingegangen sind, war es wert.«
    »Ich bin mit ihr keinen Handel
eingegangen.«
    »Kommen Sie, Stameroff. Wir wissen
beide, daß da etwas vertuscht wurde und daß Sie mittendrin steckten. Warum
geben Sie das nicht zu — zumindest mir gegenüber?«
    »Miss McCone, zur Zeit des
Benedict-Prozesses war ich ein ganz kleines Rädchen im Getriebe der Justiz.
Wenn Mrs. Benedict ein Abkommen geschlossen hat, dann mit einer wesentlich
wichtigeren Persönlichkeit, als ich es war.«
    »Sie waren nur ausführendes Organ,
oder? Gehörte die Adoption von Judy auch zu den Anordnungen, denen Sie sich
unterwarfen?«
    Er schüttelte traurig den Kopf. »Sie
verstehen überhaupt nichts, oder? Ich mochte das kleine Mädchen wirklich. Sie
war allein in der Welt — oder würde es bald sein — und brauchte mich, wie mich
vorher noch nie jemand gebraucht hatte. Es mag Sie überraschen, Miss McCone,
aber selbst ein Mann, von dem Sie sowenig halten, ist zur Liebe fähig. Die
Ereignisse der nächsten Tage werden Judy sehr verletzen, und mir bleibt nichts,
als mich selbst zu verteidigen.«
    »Jedem bleibt eine andere Möglichkeit.«
    »Wenn ich eine habe, kann ich sie nicht
erkennen.«
    Wir saßen eine Weile schweigend da und
teilten einen Gedanken — den an die bevorstehende Katastrophe. Zu meiner
Überraschung reichte mir Stameroff schließlich die Hand. »Wahrscheinlich werden
wir keine Gelegenheit mehr zu einem weiteren Gespräch haben.«
    »Nein, wohl kaum.«
    Ich stieg aus und sah dem Wagen nach,
der langsam seinen Weg aus meiner engen, verstopften Straße suchte. Dann brach
ich selbst zu meinen Terminen auf.
     
    Der Morgen war mit Nebel heraufgezogen,
und wie jeder wahre Einwohner von San Francisco war ich gewissermaßen
erleichtert. Lange, warme Abschnitte sind nicht normal für unsere Stadt an der
Bay. Dauert so eine Wärmeperiode länger als ein paar Tage, erinnern wir uns
gleich der seltsamen Schwüle, die damals vor dem Erdbeben von 1989 herrschte,
und schon werden wir nervös und reizbar. Als ich unter der diesmal
geschlossenen muschelförmigen Kuppel des Institute for North American Studies
wartete, sah ich zu meiner Freude, daß sich salzige Feuchtigkeit auf dem Glas
abgesetzt hatte.
    Für zehn Uhr war ich mit Leonard
Eyestone verabredet gewesen. Als er nach zwanzig Minuten noch nicht gekommen
war, stand ich auf und ging unruhig in der Lobby auf und ab. Links vom Empfang
befand sich ein zurückgesetzter Bereich in Form eines Sechsecks, der mich an
die Apsis einer Kirche erinnerte. Ich ging hinüber und entdeckte eine kleine
Fotogalerie mit einer Polsterbank in der Mitte.
    Die Fotos zeigten Ereignisse aus der
Geschichte des Instituts: der Transport von Möbeln ins Haus Seacliff, Russell
Eyestone beim Empfang einer Medaille von John F. Kennedy, das Ausheben der
Fundamente hier am Embarcadero, die Feierlichkeiten zur Eröffnung des neuen
Gebäudes. Der Rest beschränkte sich überwiegend auf Männer hinter Rednerpulten —
die Ansprachen

Weitere Kostenlose Bücher