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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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auch aufrichtig zu mir, Leute? Wisst ihr wirklich nicht, wo er ist?«
    »Nein!«, rief eine der jungen Kellnerinnen, als hätte ihre Kollegin auf sie eingestochen.
    »Dieser Drecksack«, wiederholte Molinari.
    »Was ist mit
Ihnen?«,
rief der Cowboy in Richtung Küche. Paul hatte offenbar die Stimme verloren. Als die Töpfe wieder losklapperten, nahmen die anderen das als Zeichen, ein wenig von dem Cop abzurücken. Ketchum hatte ihnen eingeschärft, nicht wie eine Schar Hühner auseinanderzulaufen, sondern den nötigen Freiraum zwischen sich und dem Cowboy zu schaffen - damit der Schütze den Mistkerl richtig ins Visier nehmen konnte.
    »Ich würd ihn
kochen,
wenn ich ihn in die Finger bekäme!«, rief Paul Polcari. Die Ithaca hielt er in seinen mehligen und zitternden Händen. Er sah durch die Kimme den Lauf hinunter, bis er den Hals des Cowboys fand - oder was unter Carls Mehrfachkinn davon zu sehen war.
    »Können Sie mal da rauskommen, damit ich Sie sehe?«, rief der Cop Paul zu und spähte in die Küche.
»Spaghettifresser«,
murmelte der Cowboy. In diesem Moment erhaschte Tony Molinari einen Blick auf den Colt. Carl griff mit einer Hand in die Jacke, und Molinari sah das große, sperrig unter der Achsel des Hilfssheriffs hängende Holster und seine dicken Finger, die den Griff der langläufigen Handfeuerwaffe streiften. Der Griff des 45er-Colts war offenbar mit Bein eingelegt, möglicherweise von einem Hirschgeweih.
    Herrgott noch mal, Paul!, dachte Molinari, nun
sieht
dich der Cowboy schon
an -
jetzt schieß endlich! Carmella dachte zu ihrer Überraschung ebenfalls: >Jetzt schieß endlich!< Sie musste sich zusammenreißen, um sich nicht beide Ohren zuzuhalten.
    Paul Polcari war für diese Aufgabe schlicht ungeeignet. Der Pizzabäcker war ein lieber, sanfter Mann; jetzt fühlte sich seine Kehle an, als wäre sie von einer Handvoll Mehl verstopft. Er
versuchte
»He, Cowboy!« zu sagen, doch die Worte kamen einfach nicht heraus. Und der Cowboy spähte immer noch in die Küche. Paul Polcari wusste, dass er gar nichts sagen musste. Er brauchte einfach nur abzudrücken, und Carl wäre geblendet. Aber Paul brachte es nicht über sich - genauer gesagt, er
machte es nicht.
    »Tja, Mist«, sagte der Hilfssheriff. Er ging seitwärts in Richtung Restauranttür. Molinari war besorgt, weil der Cowboy von Pauls Position im hinteren Küchenbereich aus nicht mehr zu sehen war. Plötzlich griff Carl wieder in seine Jacke, und alle erstarrten. (Jetzt holt er den Colt raus!, dachte Molinari.) Doch dann sahen sie, dass der Cowboy nur ein Kärtchen aus seiner Jackentasche zog und es Carmella gab. »Rufen Sie mich an, wenn dieser kleine Krüppel Sie anruft«, sagte Carl zu ihr, und dabei lächelte er immer noch.
    Aus dem Krach der in der Küche zu Boden fallenden Töpfe und Pfannen schloss Molinari, dass Paul Polcari da hinten ohnmächtig geworden war.
    »Du
hättest in der Küche sein müssen, Tony«, sagte Carmella später zu Molinari, »aber ich kann dem armen Paul keinen Vorwurf machen.«
    Doch Paul Polcari machte sich Vorwürfe. Er brachte den Vorfall immer wieder zur Sprache. Und Tony Molinari brauchte fast eine Stunde, um die Ithaca von dem vielen Mehl zu säubern. Der Cowboy kam nicht wieder. Allein die Flinte in der Küche zu haben hatte vielleicht schon geholfen. Und die Geschichte, die Ketchum ihnen eingetrichtert hatte - anscheinend hatte Carl sie geglaubt.
    Als die kritische Situation überstanden war, weinte Carmella und hörte gar nicht wieder auf. Alle nahmen an, dass sie wegen der schrecklichen Anspannung dieses Augenblicks weinte. Doch es hatte sie mehr getroffen, dass ihr Gamba sie verlassen hatte; Carmella weinte, weil sie wusste, dass für Gamba die kritische Situation noch
nicht
überstanden war. Entgegen dem, was sie Ketchum gesagt hatte, hätte sie abgedrückt, wenn sie in der Küche gewesen wäre. Ein Blick auf den Cowboy - und, wie Ketchum sie vorgewarnt hatte, die Art, wie der Cowboy sie angesehen hatte - hatte Carmella davon überzeugt, dass sie hätte abdrücken können. Doch weder für sie noch einen der anderen würde diese Gelegenheit je wiederkommen.
     
    Tatsächlich fehlte Dominic Carmella Del Popolo mehr, als ihr der Fischer je gefehlt hatte, und Secondo fehlte ihr auch. Sie wusste von dem Loch, das der Junge damals in seine Zimmertür in der Wohnung in der Charter Street gebohrt hatte. Vielleicht badete sie sittsamer, seit sie von dem Loch wusste, doch Carmella hatte trotzdem zugelassen, dass

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