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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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mit Schusswaffen so gut auskannte wie Ketchum, hätte wissen müssen, dass es
natürlich
nicht egal war, wer zielte und abdrückte (oder auch nicht)! Dem lieben sanften Paul würde Tony Angel nie einen Vorwurf machen.
    »Du machst Ketchum zu viele Vorwürfe, wegen allem«, sagte Danny seinem Dad mehr als einmal, aber so war es halt.
    Wäre Molinari in der Küche gewesen, hätte Dominic Del Popolo seinen Namen wieder in Dominic Baciagalupo ändern und zurück nach Boston gehen können, zu Carmella. Der Koch hätte nie Tony Angel werden müssen. Und der Schriftsteller Danny Angel, dessen vierter Roman sein erster Bestseller wurde (und dessen fünfter jetzt, 1983, bereits in mehr als dreißig Sprachen übersetzt worden war), hätte sich wieder Daniel Baciagalupo nennen können, was sein sehnlichster Wunsch war.
    »Verdammt, Ketchum!«, hatte der Koch zu seinem alten Freund gesagt. »Wenn Carmella mit deiner kostbaren Ithaca in der Küche gewesen wäre, hätte sie beide Schüsse auf Carl abgegeben, während er sie noch anglotzte. Selbst wenn der trottelige Hilfskellner dahinten gewesen wäre, jede Wette, er hätte abgedrückt!«
    »Tut mir leid, Cookie. Es waren deine Freunde, ich hab sie nicht gekannt. Du hättest mir sagen müssen, dass unter ihnen ein Nichtschütze war - ein beschissener
Pazifist!«
    »Hört auf, euch gegenseitig Vorwürfe zu machen«, forderte Danny sie mehrmals auf.
    Unterdessen würde es in einem Monat genau 16 Jahre her sein, dass Paul Polcari den Finger am Abzug von Ketchums Flinte gehabt und nicht abgedrückt hatte. Es hatte sich doch alles prima entwickelt, oder?, dachte der Koch, während er seinen Espresso schlürfte und auf den vor seinem Küchenfenster vorbeifließenden Connecticut River hinaussah.
    Früher einmal hatte man auf dem Connecticut Baumstämme befördert. Im Gastraum des Restaurants mit Blick auf die Main Street und das Kinoschild mit dem Namen des Filmes, der gerade im Latchis lief, hatte der Koch das große gerahmte Schwarzweißfoto eines Holzstaus in Brattleboro aufgehängt. Natürlich war das Foto schon viele Jahre alt; inzwischen wurde weder in Vermont noch in New Hampshire Holz auf dem Wasserweg transportiert.
    In Maine hatte die Flößerei länger überdauert, weshalb Ketchum in den Sechzigern und Siebzigern dort so viel gearbeitet hatte. Doch die letzte Trift fand in Maine 1976 statt - sie begann am Moosehead Lake und führte den Kennebec River hinunter. Natürlich war Ketchum dabei gewesen. Per R-Gespräch hatte er den Koch aus irgendeiner Kneipe in Bath, Maine, angerufen, unweit der Mündung des Kennebec.
    »Das ist der Versuch, mich von irgendeinem Arschloch von Werftarbeiter abzulenken, bei dem es mir in den Fingern juckt, ihm ein wenig körperliches Leid zuzufügen«, fing Ketchum an.
    »Vergiss nicht, dass du aus einem anderen Bundesstaat kommst, Ketchum. Die dortigen Behörden werden für den Werftarbeiter Partei ergreifen.«
    »Herrgott, Cookie - weißt du, was es kostet, Baumstämme auf dem Wasser zu transportieren? Und zwar ab der Stelle, wo man sie fällt, bis zum Sägewerk - etwa fünfzehn läppische Cent pro Cord, also gut dreieinhalb Festmeter! So billig ist eine Trift.«
    Der Koch hatte dieses Argument schon zu oft gehört. Ich könnte jetzt auflegen, dachte Tony Angel, blieb aber am Telefon - vielleicht aus Mitleid mit dem Werftarbeiter.
    »Es kostet dich sechs oder sieben Dollar pro Cord, wenn du Stämme
über Land
zum Sägewerk schaffst!«, rief Ketchum. »Die meisten Straßen in Neuengland sind ohnehin beschissen, und jetzt treiben sich nur noch diese Truckerarschlöcher darauf herum! Du glaubst vielleicht, das war jetzt schon eine Welt voller Unfälle, Cookie, aber stell dir einen überladenen Holztransporter vor, der umkippt und einen Pkw mit Skifahrern zerquetscht!«
    Ketchum hatte recht gehabt. Es hatte einige schlimme Unfälle gegeben, an denen Holztransporter beteiligt waren. Egal, wo man früher im Norden Neuenglands herumfuhr, konnte man laut Ketchum nur durch einen Elch oder einen betrunkenen Autofahrer ums Leben kommen. Doch jetzt machten sich auf den Haupt- und Nebenstraßen die Lastwagen breit; die Truckerarschlöcher waren überall.
    »Dieses Scheißland!«, hatte Ketchum in die Muschel gebrüllt. »Ihm gelingt's immer irgendwie, etwas Billiges teuer zu machen und dabei etlichen Kerlen die Arbeitsplätze wegzunehmen!«
    Das Telefongespräch wurde abrupt beendet. Man hörte undeutlich, wie in der Kneipe in Bath ein Streit losbrach, gefolgt

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