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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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von einem heftigen Handgemenge. Zweifellos hatte jemand in der Kneipe Anstoß daran genommen, dass Ketchum das ganze Land verunglimpfte - sehr wahrscheinlich das zuvor erwähnte Werftarbeiterarschloch. (»Irgendein Arschloch von
Patriot«,
wie Ketchum den Kerl später nannte.)
     
    Morgens, wenn er seinen Pizzateig zubereitete, hörte der Koch gern Radio. Nunzi hatte ihm beigebracht, einen Pizzateig immer zweimal gehen zu lassen, was eine alberne Angewohnheit sein mochte, die er aber beibehielt. Paul Polcari, ein hervorragender Pizzabäcker, hatte Tony Angel erzählt, zweimal sei besser als einmal, das zweite Mal sei aber nicht unbedingt notwendig. In der Küche des Kochhauses in Twisted River hatte dem Pizzateig des Kochs eine Zutat gefehlt, die er inzwischen für unerlässlich hielt.
    Vor langer Zeit hatte er den Sägewerksarbeiterfrauen - Dot und May, diesen alten Zimtzicken - gesagt, seiner Ansicht nach könnte die Kruste ein wenig süßer sein. Dot (diejenige, die ihn durch einen Trick dazu gebracht hatte, sie zu begrabschen) sagte: »Du spinnst, Cookie - du machst den besten Pizzateig, den ich je gegessen habe.«
    »Vielleicht muss ein wenig Honig hinein«, hatte ihr der damalige Dominic Baciagalupo entgegnet. Allerdings hatte er gerade keinen Honig mehr, weshalb er stattdessen ein wenig Ahornsirup hineintat. Was keine gute Idee war - man schmeckte den Ahorn durch. Dann hatte er die Idee mit dem Honig vergessen, bis May ihn daran erinnerte. Als sie ihm das Honigglas reichte, hatte sie ihn absichtlich mit ihrer dicken Hüfte angerempelt.
    Der Koch hatte May ihre Bemerkung über Indianer-Jane nie verziehen - als sie sagte, sie und Dot seien nicht »indianisch genug« für ihn.
    »Hier, Cookie«, hatte May gesagt. »Honig für deinen Pizzateig.«
    »Ich hab's mir anders überlegt«, hatte er zu ihr gesagt, doch in Wirklichkeit tat er keinen Honig in den Teig, weil er May die Genugtuung nicht gönnte.
    In der Küche des Vicino di Napoli hatte Paul Polcari ihm als Erstes sein Rezept für Pizzateig gezeigt. Außer Mehl, Wasser und Hefe hatte Nunzi immer ein wenig Olivenöl in den Teig gegeben, höchstens ein, zwei Esslöffel pro Pizza. Paul hatte dem Koch beigebracht, etwa genauso viel Honig wie Öl hinzuzufügen. Das Öl machte den Teig seidig-glatt - wenn die Kruste dünn war, konnte man sie backen, ohne dass sie trocken und spröde wurde. Der Honig - wie er beinahe selbst herausgefunden hätte - verlieh der Kruste einen leicht süßlichen Beigeschmack, ohne dass man den Honig herausschmeckte.
    Tony Angel setzte selten einen Pizzateig an, ohne daran denken zu müssen, wie er
beinahe
selbst auf den Honig als Zutat seines Rezepts gekommen war. An die dicke Dot und die noch dickere May hatte er schon seit Jahren nicht mehr gedacht. An jenem Morgen, als er in seiner Küche in Brattleboro an sie dachte, war er neunundfünfzig. Wie alt mochten die alten Zicken wohl sein?, fragte er sich. Bestimmt über sechzig. Er wusste noch, dass May eine ganze Menge Enkel hatte, von denen einige so alt waren wie ihre Kinder aus zweiter Ehe.
    Dann lenkte das Radio Tony von seinen Gedanken ab; er vermisste, was er für den
Dominic
in sich hielt, und das Radio erinnerte ihn an alles, was er vermisste. In Boston waren sowohl die Radiosender besser gewesen, die sie im Vicino di Napoli gehört hatten, als auch die Musik. In den Fünfzigern war die Musik schauderhaft gewesen, dachte der Koch, in den Sechzigern und Siebzigern wurde sie dann unfassbar gut; jetzt war sie wieder hart an der Grenze zu schauderhaft. Er mochte George Strait -
Amarillo by Morning
und
You Look So Good in Love
-, doch gerade an diesem Tag hatte das Radio zwei Michael-Jackson-Songs am Stück gespielt
(Bülte Jean
und
Beat It).
Tony Angel konnte Michael Jackson nicht ausstehen. Der Koch fand, dass es unter Paul McCartneys Würde gewesen war, mit Jackson
This Girl Is Mine
aufzunehmen; den Song hatten sie auch gespielt, früher am Morgen. Jetzt lief Duran Duran -
Hungry Like the Wolf.
    In Boston, in den Sixties, war die Musik wirklich besser gewesen. Sogar der alte Joe Polcari hatte zu Bob Dylan mitgesungen. Paul Polcari klopfte zu
(I Can't Get No) Satisfaction
auf den Nudeltopf, und neben den Rolling Stones und den vielen Dylan-Songs hatte es Simon and Garfunkel und die Beatles gegeben. Tony hatte es noch immer im Ohr, wie Carmella
The Sound of Silence
sang; sie hatten in der Küche des Vicino di Napoli zu
Eight Days a Week, Ticket to Ride
und
We Can Work It Out
zusammen

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