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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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briet, den Andy in Charlottes neuer vergitterter Veranda an das Propangas angeschlossen hatte. Im Winter war die Veranda mit Brettern vernagelt, damit kein Schnee hereingeweht wurde, weil dort die Sommermöbel und zwei Kanus lagerten. Danny ahnte nicht, dass Ketchum auch seinen Bogen mitgebracht hatte.
    Danny hatte vergessen, dass Ketchum auch mit dem Bogen jagte und die Saison für Bogenschützen in New Hampshire drei Monate dauerte; Ketchum hatte also eine Menge Übung.
    »Das ist Wilderei«, klärte Danny den Holzfäller auf.
    »Die Mounties haben keine Schüsse gehört, oder?«, fragte Ketchum.
    »Es ist und bleibt Wilderei, Ketchum.«
    »Wenn man nichts hört, ist es eher nichts, Danny. Ich weiß, dass Cookie kein Fan von Wildbret ist, aber ich finde, so schmeckt es ziemlich gut.«
    Danny mochte die Hirschjagd eigentlich gar nicht - jedenfalls nicht das Töten -, war aber gern mit Ketchum zusammen, und in jenem Februar 1986, als sie ein paar Nächte in dem Haupthaus auf Turner Island verbrachten, fand Danny heraus, wie herrlich der Winter in der Georgian Bay war.
    Von seinem neuen Schreibschuppen aus sah Danny eine vom Wind gebeugte Kiefer; sie war so krumm, dass sie ab einer bestimmten Höhe fast waagrecht wuchs. Als Neuschnee fiel und man beinahe von einem »Whiteout« sprechen konnte - man also nicht mehr unterscheiden konnte, wo das Festland aufhörte und die zugefrorene Bucht anfing -, fiel Danny Angel auf, wie beharrlich sich das Bäumchen an sein unsicheres Überleben klammerte.
    Gebannt saß Danny in seinem Schreibschuppen und ließ die windgebeugte Kiefer nicht aus den Augen; er stellte sich sogar vor, wie es wäre, einen ganzen Winter lang auf dieser Insel im Huron-See zu leben. (Natürlich war ihm klar, dass Charlotte es nicht länger als ein Wochenende ausgehalten hätte.)
    Ketchum kam in den Schreibschuppen. Er hatte aus dem See Wasser geholt und es in ein paar Nudeltöpfen auf dem Gasherd zum Sieden gebracht. Er erkundigte sich, ob Danny das erste oder zweite Wannenbad nehmen wollte.
    »Siehst du den Baum, Ketchum?«, fragte ihn Danny und zeigte auf die kleine Kiefer.
    »Du meinst wohl den, den der Wind krumm und schief geweht hat«, sagte Ketchum.
    »Ja, genau den«, antwortete Danny. »Woran erinnert der dich?«
    »An deinen Dad«, sagte Ketchum, ohne zu zögern. »Der Baum ist praktisch Cookies Ebenbild, aber er hält's aus, Danny - genau wie dein Dad. Cookie hält's aus.«
     
    Im November 1986 gingen Ketchum und Danny in der Gegend um Pointe au Baril auf die Hirschjagd - es war ihre dritte und letzte gemeinsame Jagdsaison -, und im Januar 1987 »campten« sie, wie sie es nannten, auch auf Turner Island. Weil Danny darauf bestand, und zu Ketchums großer Bestürzung fand außerhalb der Saison keine Jagd mit Pfeil und Bogen mehr statt. Statt seines Bogens brachte Ketchum Hero mit - samt seiner Flinte (nur für alle Fälle), aus der nie ein Schuss abgefeuert wurde.
    Danny hielt den Ruf des Jagdhundes als Furzer für übertrieben; in jenem Januar nahm Ketchum den Hund wieder als Vorwand, um in Opas ungeheizter Blockhütte zu übernachten. Da das Haupthaus so gründlich winterfest gemacht worden war, fand es der alte Waldarbeiter dort nun ein wenig zu warm (und zu behaglich). Er sagte, er sehe nachts gern seinen Atem - wenn er überhaupt etwas sehen könne. Es gab dort weder Strom noch Propangaslampen, und Danny hatte keine Vorstellung davon, was Ketchum nachts in Opas Hütte sah. Wenn Ketchum zu Bett ging, nahm er eine Taschenlampe mit, trug sie aber wie eine Keule; Danny sah nie, dass er sie anknipste.
    Im Sommer war Ketchum nur ein einziges Mal auf Charlottes Insel gewesen, und zwar an dem Wochenende, als auch der Koch mitgekommen war. Charlotte erfuhr nie, dass Ketchum damals auch ein Gewehr dabeigehabt hatte, aber Danny wusste es. Er hatte gehört, wie Ketchum an der Hintertür eine Klapperschlange erschoss. Charlotte war gerade mit dem Boot nach Pointe au Baril Station unterwegs und hörte den Schuss nicht.
    »Klapperschlangen stehen unter Naturschutz - sind vom Aussterben bedroht, glaube ich«, sagte Danny zu Ketchum. Der hatte die Schlange schon enthäutet und die Schwanzrassel abgeschnitten.
    Im Sommer ließ Charlotte ihr Boot bei Desmasdon's warten, der Werft, wo im Winter die Boote ins Trockendock verholt wurden. Als Danny jetzt zusah, wie Ketchum der Schlange die Haut abzog, fiel ihm ein Poster bei Desmasdon's ein, auf dem die verschiedenen Schlangenarten Ontarios abgebildet waren,

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