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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Charlotte. Charlotte, die er mit seiner Frage überrumpelte, wusste es nicht, Ketchum aber schon.
    Schließlich war die Holzfällerei überall gleich. Die großen Wälder waren gefällt worden, dann hatte man die Sägewerke entweder abgebrannt oder abgerissen. Oder, wie Ketchum es formulierte: »Die Sägewerke sind aufgrund purer Vernachlässigung verschwunden.«
    »Vielleicht ist der Bär auf einer Nachbarinsel«, sagte Ketchum und schaute sich um. »Auf
dieser
Insel kann der Bär nicht sein, sonst wäre Hero noch aufgeregter.« (Auf Danny und Charlotte wirkte der schlanke Hund so aufgeregt, als wäre ein Bär bereits auf dem
Bootsanleger.)
    Wie sich herausstellte, war in diesem Sommer ein Bär auf Barclay Island. Der Bär hätte in null Komma nichts nach Turner Island hinüberschwimmen können - wie Danny und Ketchum herausfanden, konnten sie selbst die Strecke sogar durchwaten -, dennoch tauchte der Bär nie auf ihrer Insel auf, vielleicht weil er Ketchums Hund gewittert hatte.
    »Brennt das Fett auf dem Grill weg, nachdem ihr ihn benutzt habt«, riet ihnen Ketchum. »Stellt den Müll nicht raus, und bewahrt das Obst im Kühlschrank auf. Ich würde euch ja Hero dalassen, doch der muss auf mich aufpassen.«
    In der Nähe der Hintertür stand eine unbewohnte Blockhütte, das erste Gebäude, das seinerzeit auf Turner Island gebaut worden war. Charlotte zeigte sie Ketchum. Die Fliegengitter waren ein wenig zerrissen, und ein Doppelstockbett war erst getrennt und später Seite an Seite zusammengenagelt worden; eine extra breite Matratze lag darauf, die seitlich über die Bettrahmen ragte. Die Decke auf dem Bett war von Motten zerfressen, und die Matratze war schimmlig; seit Charlottes Großvater nicht mehr auf die Insel kam, hatte dort keiner mehr übernachtet.
    Es war seine Hütte gewesen, erzählte Charlotte, und nach dem Tod des alten Mannes hatte kein anderes Mitglied der Familie Turner mehr die heruntergekommene Hütte betreten, in der es, laut Charlotte, spukte (wenigstens hatte sie das als Mädchen geglaubt).
    Sie zog einen abgewetzten schmutzigen Läufer beiseite, um Ketchum die verborgene Falltür im Fußboden zu zeigen. Die Hütte stand auf Betonpfählen, kaum höher als Schlackenbetonsteine - es gab kein Fundament -, und unter der Falltür, etwa einen Meter tiefer, war nichts als blanke Erde. Da rundherum Kiefern standen, waren Kiefernnadeln unter die Hütte geweht, was der Erde einen trügerisch weichen und bequemen Anschein gab.
    »Wir wissen nicht, wozu Opa die Falltür benutzt hat«, erklärte Charlotte Ketchum, »vermuten aber, dass er hier sein Geld versteckt hat, weil er ein Zocker war.«
    Hero schnupperte in dem Loch im Boden, während Ketchum fragte: »War dein Großvater Jäger, Charlotte?«
    »Aber ja!«, rief Charlotte. »Nach seinem Tod haben wir endlich seine Flinten weggeschmissen.« (Ketchum verzog das Gesicht.)
    »Tja, das hier ist ein Kühlloch zur Fleischlagerung«, sagte ihr Ketchum. »Bestimmt war dein Großvater im Winter hier.«
    »Ja, genau!«, rief Charlotte beeindruckt.
    »Wahrscheinlich nach der Hirschsaison, wenn die Bucht zugefroren war«, überlegte Ketchum laut. »Ich schätze, wenn er einen Hirsch geschossen hat - also eure Mounties haben bestimmt gehört, wenn jemand schoss, bei der Stille, die hier im Winter bei dem vielen Schnee herrschen muss. Und wenn sie dann vorbeikamen und ihn fragten, was er geschossen hat, hat dein Opa euren Polizisten bestimmt irgendeinen Bären aufgebunden. Dass er zum Beispiel am Kopf eines Eichhörnchens vorbeigeschossen hat, weil ihn der dauernde Lärm verrückt machte, oder dass Hirsche an seinen Lieblingszedern knabberten, weshalb er über ihre Köpfe hinwegschießen musste, um sie zu vertreiben. Und die ganze Zeit lag der Hirsch da unten in dem Loch, über dem er auch ausgeweidet worden war, damit kein Blut auf den Schnee tropfte ... Verstehst du, worauf ich hinauswill, Charlotte?«, fragte Ketchum. »Dieses Loch hier ist der Kühlraum eines
Wilderers!
Ich hab's euch doch gesagt - hier in der Gegend gibt's 'ne Menge Hirsche, jede Wette.«
    In dieser heruntergekommenen Blockhütte hatten Ketchum und Hero übernachtet, mochte es da spuken oder nicht. (»Teufel auch, wo ich gewohnt habe, hat's fast überall gespukt«, hatte Ketchum gesagt.) Die neueren Schlafhütten gefielen dem alten Waldarbeiter nicht; zu dem zerrissenen Fliegengitter sagte Ketchum: »Wenn man nicht von der einen oder anderen Mücke gestochen wird, merkt man ja kaum, dass man

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