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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Tagliatelle hatte Dominic gemacht, lange bevor es im Restaurant (und in der Küche) hektisch wurde; außerdem hatte er eine Rotweinreduktion mit Rosmarin angesetzt.
    An diesem Samstagabend war es in der Küche lauter als sonst, weil Dorotea, die neue Tellerwäscherin, einen Gips am linken Handgelenk (samt Daumen) hatte und ständig die Pfannen fallen ließ. Es wurden Wetten darüber abgeschlossen, was Ketchum bestellen würde. Silvestro hatte auf das Tagesgericht gesetzt, ein Cassoulet, doch Dominic sagte, kein normaler Waldarbeiter würde freiwillig Bohnen essen - nicht wenn es Alternativen gäbe. Der Koch prophezeite, Ketchum werde das
Côte de bceuf
für zwei nehmen; Joyce und Kristine meinten, wahrscheinlich werde der alte Flößer die Lammkoteletts
und
die Leber bestellen.
    »Oder er teilt sich das
Côte de boeuf
mit Daniel und nimmt außerdem die Lammkoteletts oder die Leber«, spekulierte Dominic.
    Der Stiel der Pfanne mit der Rotweinreduktion lag warm in seiner Hand. Irgendetwas daran lenkte den Koch ab, aber er kam nicht dahinter, was es war. In letzter Zeit hatte er bemerkt, dass seine alten Erinnerungen deutlicher - das heißt lebendiger - waren als die neueren, falls das überhaupt möglich war. Beispielsweise erinnerte er sich auf einmal daran, dass Rosie etwas zu Ketchum gesagt hatte, kurz nachdem oder bevor sie alle drei aufs Eis gingen. Aber hatte Ketchum zuerst gesagt: »Gib mir deine Hand«? Der Koch glaubte es, war sich aber nicht sicher.
    Rosie hatte ganz klar und deutlich gesagt: »Nicht
die
Hand - das ist die falsche Hand.« Rasch hatte sie für ein wenig Abstand zwischen sich und Ketchum gesorgt, aber war das vor oder sogar bei dem verdammten Do-si-do gewesen? Dominic erinnerte sich, aber irgendwie auch nicht, was daran lag, dass er besoffener gewesen war als Rosie
und
Ketchum.
    Egal; worum ging es bei dieser Sache mit der falschen Hand überhaupt?, fragte sich der Koch. Ketchum wollte er lieber nicht darauf ansprechen. Außerdem, dachte Dominic, würde sich der dreiundachtzigjährige Holzfäller überhaupt noch an Einzelheiten dieser lange zurückliegenden Nacht erinnern? Schließlich trank Ketchum immer noch!
    Einer der jüngeren Kellner wagte die Prognose, Ketchum würde
gar nichts
zu essen bestellen. Er hatte bereits drei Steam Whistles vom Fass und zwei Keiths intus; der alte Holzfäller konnte unmöglich noch Platz für ein Abendessen haben. Doch der junge Kellner kannte Ketchum nicht.
    Patrice kam auf einen Sprung in die Küche.
»Oh, la, lá,
Dominic!«, sagte er. »Was hat dein Sohn denn zu feiern? Danny hat den Barolo Massolino bestellt!«
    »Ich mach mir keine Sorgen«, antwortete der Koch. »Daniel kann es sich leisten, und man kann sich darauf verlassen, dass Ketchum das meiste davon trinkt.«
    Es war ihr letzter Abend in der Küche vor den langen Ferien; alle schufteten, aber alle waren guter Laune. Doch Dominic wusste immer noch nicht, warum er so abgelenkt war; er tastete immer wieder nach dem vertrauten Stiel der warmen Pfanne. Was ist los?, überlegte er. Was stimmt hier nicht?
    Im Schlafzimmer des Kochs in dem Haus am Cluny Drive rückten die Pinnwände mit den zahllosen Fotos die gusseiserne Bratpfanne von zwanzig Zentimeter Durchmesser fast in den Hintergrund (oder aus dem Gedächtnis). Doch diese Pfanne hatte die Grenzen von US-Bundesstaaten überquert und, vor nicht allzu langer Zeit, eine Grenze zwischen zwei Ländern; diese Pfanne gehörte zweifellos in das Schlafzimmer des Kochs, auch wenn ihre einst legendären Schutzkräfte inzwischen wahrscheinlich (wie Carmella einmal vermutet hatte) nur noch symbolischer Natur waren.
    Die gusseiserne Pfanne hing direkt hinter der Tür in Dominics Schlafzimmer, wo man sie fast nicht bemerkte. Warum nur hatte der Koch so beharrlich an sie gedacht - wenigstens seit Ketchum (wie üblich unangemeldet) zu Weihnachten eingetroffen war?
    Dominic ahnte nicht, dass auch Danny in letzter Zeit an die alte Bratpfanne gedacht hatte. Die Pfanne hatte etwas Dauerhaftes; sie war unverändert. Die verdammte Pfanne hing einfach im Schlafzimmer seines Vaters. Für Danny war sie eine ständige Mahnung, aber
woran
gemahnte sie ihn?
    Gut, es war die Pfanne, mit der er Indianer-Jane erschlagen hatte; als solche hatte sie Dannys und Dominics Flucht in Gang gesetzt. Mit derselben Pfanne hatte Dominic einem Bären eine verpasst - so jedenfalls die Legende. In Wirklichkeit hatte Dannys Dad mit dieser gusseisernen Pfanne Ketchum eins übergezogen, nicht einem

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