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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Bären. Doch Ketchum war zu zäh, er ließ sich nicht töten (»Nur Ketchum kann Ketchum töten«, hatte der Koch erklärt.)
    Auch darüber hatten Danny und sein Dad nachgedacht: Selbst mit 83 Jahren konnte nur Ketchum Ketchum töten.
    Gerade kam der junge Kellner wieder in die Küche. »Der große Mann will das
Côte de boeuf
für zwei!«, verkündete er ehrfurchtsvoll. Dominic rang sich ein Lächeln ab; als Patrice ein wenig später in die Küche platzte, um ihm zu sagen, sein Sohn habe eine zweite Flasche Barolo Massolino bestellt, lächelte er erneut. Nicht einmal ein
Côte de boeuf
für zwei und zahllose Flaschen Barolo könnten Ketchum umbringen, wie der Koch wusste. Das konnte nur Ketchum und Ketchum ganz allein.
     
    In der Küche war es so heiß, dass sie die Hintertür zur Gasse öffneten - nur einen Spaltbreit -, obwohl es ein sehr kalter Abend war und ein ungewöhnlich starker Wind die Tür mehrmals aufstieß. Bei eisigen Temperaturen versammelten sich in der Crown's Lane, der Gasse hinter dem Restaurant, Obdachlose. Der Abluftventilator des Restaurants blies warme Luft in die Gasse - die auch noch gut roch. In der Hoffnung auf eine warme Mahlzeit ließ sich gelegentlich ein Obdachloser an der Tür zur Küche blicken.
    Der Koch vergaß immer wieder, ob Joyce oder Kristine die Raucherin war, aber eine der jungen Köchinnen wurde einmal von einem hungrigen Obdachlosen erschreckt, als sie in der Gasse eine Zigarette rauchte. Seitdem wusste das gesamte Küchen- und Restaurantpersonal, dass sich dort Obdachlose aufhielten auf der Suche nach Wärme und vielleicht einem Happen zu essen. (An dieser Tür wurden auch die Lieferungen abgeladen, allerdings nur tagsüber.)
    Als Dominic erneut loszog, um die Tür zu schließen, die der bitterkalte Wind wieder mal aufgestoßen hatte, stand da der einäugige Pedro - der beliebteste Obdachlose im Restaurant Patrice, weil Pedro nie vergaß, dem Koch (oder den Köchen) ein Lob für das Essen auszusprechen, das man ihm gegeben hatte. Eigentlich hieß er Ramsay Farnham, doch die Familie Farnham - eine altehrwürdige Torontoer Familie, berühmte Kunstmäzene - hatte ihn verstoßen. Ramsay, der inzwischen Ende vierzig oder Anfang fünfzig war, hatte die Farnhams wiederholt dem öffentlichen Gespött preisgegeben. Das Fass zum Überlaufen brachte Ramsay auf einer improvisierten Pressekonferenz während einer ansonsten belanglosen kulturellen Veranstaltung, indem er verkündete, sein Erbe einem Aidshospiz in Toronto spenden zu wollen. Außerdem behauptete er, er schreibe gerade seine Memoiren fertig, in denen er erkläre, weshalb er sich ein Auge geblendet habe. Er sagte, während seines gesamten Erwachsenenlebens habe er seine Mutter begehrt, und auch wenn er weder tatsächlich Sex mit ihr gehabt noch seinen Vater ermordet habe, so habe er doch beides gewollt. Deshalb habe er sich nur ein Auge geblendet, das linke, und sich in Pedro umbenannt - nicht in Odipus.
    Niemand wusste, ob sich hinter Pedros Augenklappe eine leere Höhle verbarg oder ein völlig intaktes linkes Auge oder warum er als neuen Namen Pedro gewählt hatte. Er war sauberer als die meisten Obdachlosen; seine Eltern wollten zwar nichts mit ihm zu tun haben, aber vielleicht gab es andere, mitfühlende Mitglieder der Familie Farnham, die Ramsay (alias Pedro) erlaubten, gelegentlich ein Bad zu nehmen und seine Klamotten zu waschen. Er war natürlich verrückt, hatte aber eine erstklassige Bildung genossen und konnte sich außerordentlich gut ausdrücken. (Seine Memoiren waren entweder ein ewig unvollendetes Werk, oder aber er hatte noch kein Wort davon geschrieben.)
    »Einen guten Abend wünsche ich, Dominic«, begrüßte der einäugige Pedro den Koch, während der sich mit der windgebeutelten Küchentür abmühte.
    »Wie geht's, Pedro?«, fragte der Koch. »An einem so kalten Abend wäre eine warme Mahlzeit vielleicht genau das Richtige für dich.«
    »Ich habe gerade mit ähnlichen Gedanken gespielt, Dominic«, gab Pedro zurück, »und obwohl mir bewusst ist, dass der Ventilator nur äußerst ungenaue Hinweise liefert, ist mir heute Abend etwas Besonderes aufgefallen - etwas, was nicht auf der Speisekarte steht -, und wenn mich meine Nase nicht trügt, hat sich Silvestro wieder einmal selbst übertroffen, mit einem Cassoulet.«
    Dominic hatte noch nie erlebt, dass Pedros Nase ihn trog. Der Koch brachte dem Obdachlosen eine großzügige Portion Cassoulet und warnte ihn davor, sich an der Auflaufform zu verbrennen.

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