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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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auch nicht. Doch sein Dad setzte sich im Bett auf, blinzelte in das plötzliche grelle Licht, und dann sagte er mit
sehr
lauter Stimme: »Wieso hat das so lange gedauert, du Vollidiot? Du bist wohl dümmer als ein Haufen Hundescheiße - genau wie Jane immer gesagt hat.« (Das hörte Danny ganz bestimmt.)
    »Du kleiner Scheißkerl, Cookie!«, schrie Carl. Das hörte Danny auch; er kniete schon auf dem Boden und zog die Winchester aus dem offenen Futteral unter dem Bett.
    »Dümmer als ein Haufen Hundescheiße, Cowboy!«, rief sein Dad.
    »So dumm bin ich nicht, Cookie! Denn
du
stirbst jetzt!«, brüllte Carl. Er hörte nicht, wie Danny die Waffe entsicherte oder wie er barfuß durch den Flur lief. Der Cowboy zielte mit seinem 45er-Colt und traf den Koch ins Herz. Dominic Baciagalupo wurde gegen das Kopfende seines Bettes geschleudert; er war sofort tot, auf seinen Kissen. Dem Exhilfssheriff blieb keine Zeit, das seltsame Lächeln des Kochs zu begreifen, das die weiße Narbe auf seiner Unterlippe in die Länge zog, und nur Danny verstand, was sein Dad gesagt hatte, kurz bevor ihn der Schuss traf.
»She bu de«,
brachte Dominic noch heraus, wie es ihm Ah Gou und Xiao Dee beigebracht hatten - »Ich ertrage es nicht, loszulassen.«
    Natürlich war das für Carl Chinesisch. Als er herumfuhr und den nackten Mann in der Tür sah, begriff er wohl halbwegs, warum der Koch mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben war. Dominic wusste nicht nur, dass das Gebrüll seinen Sohn retten würde; er wusste auch, dass sein Freund Ketchum Daniel eine bessere Waffe als die gusseiserne Pfanne besorgt hatte. Und vielleicht glomm in den Augen des Cowboys in letzter Sekunde so etwas wie Wiedererkennen auf, als er sah, dass Danny bereits mit Ketchums Winchester auf ihn zielte - dem vielgeschmähten Jugendgewehr.
    Der lange Lauf von Carls Colt zeigte immer noch auf den Boden, als ihm die erste Ladung Schrot aus der Kaliber 20 die halbe Kehle wegriss; der Cowboy wurde nach hinten gegen den Nachttisch geschleudert, wo die Glühbirne der Lampe zwischen seinen Schulterblättern zerbarst. Dannys zweite Schrotladung zerfetzte, was von Carls Kehle übrig war. Das Flintenlaufgeschoss, der sogenannte Fangschuss, war eigentlich unnötig, aber Danny - jetzt aus kürzester Entfernung - jagte den dritten und letzten Schuss in Carls Hals, als zöge die klaffende Wunde die Kugeln an wie ein Magnet.
    Wenn man Ketchum glauben konnte - oder falls er es nicht nur bildlich gemeint hatte, als er darüber sprach, wie Wölfe ihre Beute töten -, waren dann die drei Schüsse aus der Winchester Ranger nicht genau so, wie Wolfsküsse sein sollten, nämlich alles andere als schön?
    Der immer noch nackte Danny ging nach unten. Von dem Telefon in der Küche aus rief er die Polizei an und sagte, er werde die Haustür offen lassen, man werde ihn im ersten Stock bei seinem Vater finden. Sobald er die Tür aufgeschlossen hatte, ging er wieder nach oben in sein Schlafzimmer und zog sich eine alte Jogginghose und ein Sweatshirt an. Danny überlegte, ob er Ketchum anrufen sollte, doch es war spät, und es gab keinen Grund zur Eile. Als er das Schlafzimmer seines Dads wieder betrat, ließen sich die Wolfsküsse nicht übersehen, die den Cowboy zerfetzt hatten - der so zermatscht dalag, als hätte ihn ein Schlauch ausgespritzt -, aber Danny bedauerte nur kurz, dass er Lupita so eine Schweinerei hinterließ. Der blutgetränkte Bettvorleger, die blutbespritzten Wände, die blutigen Fotos auf der Pinnwand über dem zersplitterten Nachttisch - nun, damit würde Lupita fertig werden, das stand für Danny fest. Er wusste, dass ihr schon Schlimmeres widerfahren war: Sie hatte ein Kind verloren.
    Ketchum hatte recht gehabt, was den Rotwein betraf, dachte der Schriftsteller, als er sich neben seinen Vater auf das Bett setzte. Hätte er nur Bier getrunken, hätte er den Cowboy vielleicht ein paar Sekunden früher gehört; dann hätte Danny womöglich das Feuer eröffnet, ehe Carl den Abzug betätigte. »Mach du dir deswegen keine Vorwürfe, Danny«, sagte Ketchum später zu ihm. »Der Cowboy ist mir gefolgt. Darauf hätte ich vorher kommen müssen.«
    »Mach
du
dir deswegen keine Vorwürfe, Ketchum«, entgegnete ihm Danny, doch Ketchum tat es natürlich trotzdem.
    Als die Polizei kam, waren alle Nachbarhäuser hell erleuchtet, und eine Menge Hunde bellten; normalerweise war es um diese nachtschlafende Zeit in Rosedale sehr still. Die meisten Menschen, die in der Nähe wohnten, hatten noch

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