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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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entsichern, hörte man ein leises Klicken, doch Ketchum hatte Danny geraten, die Waffe gesichert zu lassen.
    Der alte Holzfäller begründete das so: »Wenn der Cowboy das Klicken beim Entsichern hört, ist er schon zu nah.«
    Danny sah das Foto von Charlotte mit dem
Inuksuk
hinter ihr an, dann die Flinte unter seinem Bett. Vielleicht verkörperten die Steingebilde und die Winchester Ranger beide Schutz - die Waffe einen konkreteren. Danny war nicht unglücklich darüber, das Gewehr zu haben, auch wenn er das Gefühl hatte, dass Weihnachten immer irgendwelche morbiden Gedanken mit sich brachte - manchmal von Ketchum ins Rollen gebracht (beispielsweise mit der Winchester), dann wieder von Danny oder seinem Dad. So konnte man dem Koch vorwerfen, an diesem Heiligabend eine Abwärtsspirale der Schwermut angestoßen zu haben.
    »Denkt doch nur mal«, hatte Dominic zu seinem Sohn und Ketchum gesagt. »Wenn Joe noch lebte, wäre er jetzt Mitte dreißig - und hätte wahrscheinlich eigene Kinder.«
    »Joe wäre älter als Charlotte, als ich sie kennenlernte«, stimmte Danny ein.
    »Außerdem, Daniel«, sagte sein Vater, »wäre Joe nur zehn Jahre jünger, als
du
warst - bei Joes Tod, meine ich.«
    »Es reicht! Hört bloß auf mit dem Scheiß!«, rief Ketchum. »Und wenn Indianer-Jane noch lebte, war sie heute verdammte vierundachtzig! Ich bezweifle, dass sie überhaupt mit uns reden würde - bestimmt nicht, wenn wir es nicht irgendwie schaffen, uns erbaulicheren Themen zuzuwenden.«
    Doch gleich am nächsten Tag hatte Ketchum Danny die Flinte geschenkt - nicht unbedingt
erbaulicher
als ihre zentralen Gesprächsthemen oder als ihre alles beherrschende Obsession -, und der Koch hatte sich, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, über die »morbiden Widmungen« in Dannys Büchern beklagt.
    Richtig,
Baby auf der Straße
enthielt (wie zu erwarten) die Widmung: »Meinem Sohn Joe -
in memoriam«.
Es war die zweite Widmung für Joe und die insgesamt dritte
in memoriam.
Dominic fand das deprimierend.
    »Ich kann's nicht ändern, wenn dauernd Leute sterben, die ich kenne, Paps«, hatte Danny erwidert.
    Derweil hatte Ketchum an der Winchester das Vorderschaffrepetieren demonstriert, dass die ausgeworfenen Gewehrpatronen nur so durch die Gegend flogen. Eine der scharfen Patronen (ein Flintenlaufgeschoss) verschwand in dem leeren Verpackungspapier anderer Geschenke und war eine Zeitlang nicht mehr auffindbar, doch Ketchum lud und leerte die Waffe, als wollte er eine ganze
Horde
Angreifer niedermähen.
    »Wenn wir lange genug leben, werden wir zu Karikaturen unserer selbst«, sagte Danny jetzt laut vor sich hin, als schreibe er es gerade auf (was er nicht tat). Wenn er im Bett lag, betrachtete er weiterhin wie gebannt das Foto von Charlotte mit dem geheimnisvollen
Inuksuk
- wenn er sich nicht gerade verrenkte und unter sein Bett sah, wo das geladene Gewehr versteckt war.
     
    Es war der zweite Weihnachtstag, in Kanada Boxing Day genannt. Ein Schriftsteller, den Danny kannte, gab da immer eine Party. Alle Jahre wieder kaufte der Koch zu Weihnachten Outdoorbekleidung für Ketchum - entweder bei Eddie Bauer oder bei Roots -, und Ketchum trug sein neues Outfit auf der Boxing-Day-Party. Dominic war ein verlässlicher Helfer in der Küche; Küchen, egal, welche, waren stets sein zweites Zuhause. Danny mischte sich unter seine Freunde, bemüht, sich von Ketchums politischen Ausbrüchen nicht in Verlegenheit bringen zu lassen. Aber eigentlich gab es für Danny nie Anlass, peinlich berührt zu sein - nicht in Kanada, wo die antiamerikanischen Tiraden des alten Holzfällers sehr gut ankamen.
    »Irgendein Kerl wollte, dass ich in einer Radiosendung auftrete«, erzählte Ketchum Danny und seinem Dad, als der Koch sie von der Party nach Hause fuhr.
    »Herrje«, sagte Dominic wieder.
    »Glaub ja nicht, du wärst ein guter Fahrer, nur weil du nüchtern bist, Cookie - am besten lässt du Danny und mich die Konversation bestreiten, während du deine Aufmerksamkeit dem chaotischen Verkehr widmest.«
    In dieser Nacht hätte der Cowboy alle drei umbringen können, doch Carl war ein Feigling; das Risiko wollte er nicht eingehen, nicht mit Ketchum im Haus. Der Exhilfssheriff wusste weder, dass die Flinte jetzt unter Dannys und nicht unter Ketchums Bett lag, noch, wie viel der alte Holzfäller auf der Party getrunken hatte. Wahrscheinlich hätte sich der Cowboy den Weg in das
riaxis freiscbießen
können, ohne dass Ketchum aufgewacht wäre. Danny wäre auch nicht

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