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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hatte Ketchum gewisse Probleme, den Bären über die Grenze zu schaffen. »Sagen wir einfach, Hero musste ein gutes Stück zu Fuß gehen«, wie Ketchum später Danny erzählte. Mit »gehen« meinte Ketchum wohl, dass der Hund den ganzen Weg
laufen
musste. Doch es war das erste Wochenende der Bärensaison, an dem Jagdhunde gestattet waren; das brave Tier war überdreht genug, dass es ihm nichts ausmachte, hinter Ketchums Geländewagen herzulaufen. Mit Ketchum und dem toten Bären an Bord war nämlich für Hero in dem Suzuki kein Platz mehr gewesen.
    »Es könnte schon dunkel sein, wenn Hero und ich am Montag nach Hause kommen«, hatte Ketchum Danny gewarnt. Während des verlängerten Wochenendes war der alte Holzfäller nicht aufzufinden oder zu erreichen; Danny versuchte es nicht einmal. Telefon und Faxgerät hatte Ketchum nach und nach akzeptiert, doch ein Handy würde sich der ehemalige Flößer - er war inzwischen 84 - nie anschaffen. (Es war nicht so, dass es 2001 in den Great North Woods viele Handys gegeben hätte.)
    Außerdem hatte Dannys Flug aus Toronto Verspätung; als er endlich in Boston landete und Danny einen Wagen gemietet hatte, wurde aus der geplanten gemütlichen Tasse Kaffee mit Paul Polcari und Tony Molinari ein improvisiertes Mittagessen. Ehe Danny und Carmella Del Popolo das North End verließen, war es früher Nachmittag. Natürlich waren die Straßen besser in Schuss als 1954, als der Koch und sein zwölfjähriger Sohn die Reise in die Gegenrichtung angetreten hatten, aber von Bostons North End bis in den Norden New Hampshires war es immer noch »ein ordentliches Stück« (wie Ketchum sagen würde), und es war später Nachmittag, als Danny und Carmella auf der Route 16 dem Oberlauf des Androscoggin entlang bis Errol hinauffuhren.
    Als sie am Pontook-Stausee vorbeikamen, erkannte Danny die Dummer Pond Road - die ehemalige Holzabfuhrstraße -, doch zu Carmella sagte er nur: »Morgen kommen wir mit Ketchum wieder hierher.«
    Carmella nickte; sie schaute die ganze Zeit aus dem Seitenfenster auf den Fluss hinaus. Etwa 15 Kilometer später sagte sie: »Das ist ein mächtiger Fluss.« Danny war froh, dass sie den Fluss nicht im März oder April gesehen hatte; während der Schlammperiode schwoll der Androscoggin zum reißenden Strom an.
    Ketchum hatte Danny geraten, am besten im September zu kommen - vor allem Carmella zuliebe. Die Chancen standen gut, dass das Wetter hielt, die Nächte wurden kälter, es gab keine Mücken mehr, und für Schnee war es noch zu früh. Doch Coos County lag so weit im Norden, dass das Laub sich schon Ende August verfärbte. An diesem zweiten Montag im September sah es hier oben bereits aus wie im Herbst, und spätnachmittags wurde es schon empfindlich kühl.
    Ketchum hatte sich Sorgen gemacht, wie Carmella im Wald zurechtkommen würde. »Ich kann sie fast die ganze Strecke fahren, aber um an die richtige Stelle am Flussufer zu gelangen, muss sie ein Stückchen zu Fuß gehen«, hatte Ketchum gesagt.
    Vor seinem inneren Auge sah Danny die Stelle, die Ketchum meinte - eine Erhebung mit Blick auf das Flussbecken vor der Biegung. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wie sehr sich alles verändert hatte - das Kochhaus stand nicht mehr, und der Ort Twisted River war niedergebrannt. Doch Dominic Baciagalupo hatte weder gewollt, dass seine Asche dort verstreut würde, wo das Kochhaus gestanden hatte, noch in der Nähe des Ortes. Der Koch hatte gewünscht, dass seine Asche im Fluss versenkt wurde, in dem Becken, wo seine Doch-nicht-Cousine Rosie unter das splitternde Eis gerutscht war. Es war fast genau die Stelle, wo Angelù Del Popolo unter die Baumstämme geraten war. Und natürlich war Carmella deshalb hier; 34 Jahre (wenn Danny richtig gerechnet hatte) waren vergangen, seit Ketchum Carmella nach Twisted River eingeladen hatte, und jetzt war sie da.
    »Wenn Sie eines Tages die Stelle sehen möchten, wo Ihr Junge umkam, wäre es mir eine Ehre, sie Ihnen zu zeigen«, hatte Ketchum damals gesagt. Carmella hatte
unbedingt
das Flussbecken sehen wollen, wo der Unfall geschehen war, aber nicht die Stämme; sie wusste, die Baumstämme würde sie nicht ertragen. Nur das Flussufer, wo ihr geliebter Gamba und Danny gestanden und gesehen hatten, wie es passiert war - und vielleicht die genaue Stelle, wo ihr Angelù, ihr Ein und Alles, wieder aufgetaucht war. Ja, eines Tages würde sie das vielleicht sehen wollen, hatte Carmella damals gedacht.
    »Ich danke Ihnen, Mr. Ketchum«,

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