Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
kundtun - sie war unzufrieden, weil es ihr nicht gelungen war, das Gespräch in die von ihr gewünschte Richtung zu steuern. Offenbar grübelte sie darüber nach, was mit Danny nicht stimmte. Jetzt wartete Danny darauf, was sie als Nächstes sagen würde; er wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das heiklere Thema ansprach, was mit seinen
Büchern
nicht stimmte.
     
    Auf der ganzen Fahrt aus Boston fand er Carmellas Konversation geistlos - ihre altersbedingte Selbstgerechtigkeit war deprimierend. Erst verhedderte sie sich in ihren Gedankengängen, dann machte sie Danny für ihre Verwirrung verantwortlich und warf ihm vor, ihren Ausführungen entweder nicht die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken oder sie absichtlich zu verwirren. Sein Dad, das wurde Danny klar, war geistig noch vergleichsweise klar geblieben. Auch wenn Ketchum von Tag zu Tag tauber und in seinen Schmähreden immer ausfallender wurde - und obwohl der alte Holzfäller im gleichen Alter wie Carmella war -, verzieh Danny ihm automatisch. Schließlich war Ketchum schon immer etwas verrückt gewesen. War der frühere Flößer nicht schon als junger Mann griesgrämig und unlogisch gewesen?, dachte Danny im Stillen.
    In diesem Moment fuhren sie im harten Licht des Spätnachmittags an dem kleinen Schild der Androscoggin tierpräparation vorbei. »Meine Güte - >Elchgeweihe zu verkaufen<«, las Carmella laut vor, bemüht, dem Schild noch mehr Details zu entnehmen. (Auf der ganzen Fahrt nach Norden hatte sie alle naselang »Meine Güte« gesagt, dachte Danny irritiert.)
    »Möchtest du anhalten und ein ausgestopftes totes Tier kaufen?«, fragte er sie.
    »Falls wir's noch vor Einbruch der Dunkelheit schaffen!«, antwortete Carmella lächelnd; sie tätschelte liebevoll sein Knie, und Danny schämte sich, weil sie ihm auf die Nerven ging. Als Kind und als junger Mann hatte er sie geliebt, und für ihn stand fest, dass sie ihn ebenfalls liebte - seinen Dad hatte sie regelrecht
vergöttert.
Doch inzwischen fand Danny sie anstrengend und hatte sie ursprünglich gar nicht mitnehmen wollen. Es war Ketchums Idee gewesen, ihr zu zeigen, wo Angel gestorben war; Danny merkte, dass er Ketchum gern für sich allein gehabt hätte. Zu sehen, wie die Asche seines Dads im Twisted River versank, wie es der Koch gewollt hatte, war Danny wichtiger, als Ketchum zu helfen, sein Versprechen einzulösen, indem er Carmella die Stelle am Flussbecken oberhalb der Biegung zeigte, wo Angelù umgekommen war. Danny kam sich kleinlich vor, weil er Carmella als Belastung und Ablenkung betrachtete; er kam sich schäbig vor, glaubte aber zum ersten Mal, dass Paul Polcari und Tony Molinari es ernst meinten. Carmella musste wirklich zufrieden sein - mit dem neuen Kerl
und
ihrem Leben. (Dass sie so langweilig war, ließ sich nur damit erklären, dass sie glücklich war!)
    Aber hatte Carmella nicht drei geliebte Menschen verloren, den Koch mitgezählt - darunter ihr einziges Kind? Wie konnte Danny, der selbst sein einziges Kind verloren hatte, Carmella
nicht
als mitfühlende Seele sehen? Danny wollte nur nicht mit Carmella zusammen sein - nicht in diesem Augenblick, wo ihn die doppelte Aufgabe voll in Anspruch nahm, die Asche seines Vaters zu versenken und mit Ketchum zusammen zu sein.
    »Wo sind sie?«, fragte Carmella, als sie sich dem Ort Errol näherten.
    »Wo sind
was?«,
sagte Danny. (Sie hatten sich gerade über Tierpräparation unterhalten! Ob sie wissen wollte, wo die toten ausgestopften Tiere waren?)
    »Wo sind Gambas sterbliche Überreste, wo ist seine Asche?«
    »In einem unzerbrechlichen Gefäß, einem Behälter - aus Plastik, nicht aus Glas«, antwortete Danny etwas ausweichend.
    »Bei deinem Gepäck, im Kofferraum des Wagens?«, fragte Carmella nach.
    »Ja.« Danny wollte ihr nichts Genaues über den Behälter verraten - was das Gefäß ursprünglich einmal enthalten hatte und dergleichen. Außerdem fuhren sie gerade in den Ort - wenn man ihn so nennen wollte -, und solange es noch hell war, wollte Danny sich orientieren und sich umsehen, damit er am Morgen Ketchum schneller fand.
    »Wir sehen uns Dienstag in aller Frühe«, hatte der alte Holzfäller gesagt.
    »Was heißt >in aller Frühe    »Vor sieben, spätestens«, sagte Ketchum.
    »Vor acht, wenn wir Glück haben«, entgegnete Danny. Danny hatte so seine Bedenken, wie sehr
in aller Frühe
Carmella aufstehen und voll einsatzfähig sein würde - zumal sie ein paar Kilometer außerhalb übernachten

Weitere Kostenlose Bücher