Letzte Nacht in Twisted River
gewesen.
Nun, gerade mal zehn Wochen auf Turner Island konnte man eigentlich nicht
auf dem Land leben
nennen; auch wenn Danny mittlerweile viel auf Reisen war, wohnte er dennoch den größten Teil des Jahres in Toronto. Aber von Anfang Januar bis Mitte März waren die einsame Insel in der Shawanaga Bay und der Ort Pointe au Baril Station sehr isoliert. (Wie Ketchum es ausdrückte: »Bei Schnee fallen einem die Birken besonders auf.«) Im Winter lebten in Pointe au Baril gerade einmal 200 Menschen.
Kennedy's, wo es Lebensmittel und Haushaltswaren zu kaufen gab, hatte in den Wintermonaten unter der Woche meist geöffnet. Draußen an der Route 69 gab es das Restaurant The Haven, wo Alkohol ausgeschenkt wurde und ein Billardtisch stand. Im Haven hatte man ein Faible für Weihnachtskränze, und man stellte Weihnachtsmänner zuhauf zur Schau - außerdem einen Barsch mit roter Zipfelmütze. Während die Schneemobilfahrer am liebsten Chicken Wings, Zwiebelringe und Pommes aßen, hielt sich Danny bei seinen seltenen Besuchen dort an die Sandwiches mit Schinken, Salat und Tomaten und an den Coleslaw.
Auch Larry's Tavern lag außerhalb an der Route 69 - Danny und Ketchum hatten dort bei ihren Jagdausflügen in der Gegend um Bayfield und Pointe au Baril übernachtet -, allerdings kursierte ein Gerücht, wonach Larry's demnächst weichen müsse, um Platz für den
neuen
Highway zu machen. Die Route 69 wurde ständig verbreitert, doch noch war die Shell-Tankstelle in Betrieb; angeblich konnte man in Pointe au Baril nur an der Shell-Tankstelle Pornohefte kaufen. (Keine besonders guten, wenn man Ketchum Glauben schenkte.)
In dieser Jahreszeit konnte es dort durchaus trist sein, und es gab kaum Gesprächsthemen, sah man von der alljährlichen Feststellung ab, dass das Hauptfahrwasser nie mehr als ein, zwei Wochen lang zufror. Und den ganzen Winter ergingen sich Buschtelefon und Lokalnachrichten in grausigen Einzelheiten der zahlreichen Verkehrsunfälle auf der Route 69. In diesem Winter hatte sich schon eine Massenkarambolage mit fünf Autos ereignet, genau an der Kreuzung mit der Go Home Lake Road oder unweit von Little Go Home Bay - Danny konnte die beiden nie auseinanderhalten. (Die Ortsansässigen, die das ganze Jahr hier lebten und nicht wussten, dass er ein berühmter Autor war, hielten Danny Baciagalupo einfach für irgendeinen beknackten Amerikaner.)
Natürlich herrschte in dem Schnaps- und Weinladen an der Route 69, gegenüber dem Laden für Angelzubehör, immer Betrieb, genau wie in der Krankenstation von Pointe au Baril. Dort hatte kürzlich der Fahrer eines Krankenwagens Danny angehalten, der mit seinem Schneemobil unterwegs war, und ihm von dem Schneemobilfahrer erzählt, der in der Shawanaga Bay durch die Eisdecke gebrochen war.
»Ist er ertrunken?«, fragte Danny den Mann.
»Man hat ihn noch nicht gefunden«, antwortete der Krankenwagenfahrer.
Vielleicht würden sie den Schneemobilfahrer erst finden, wenn irgendwann Mitte April die Eisdecke aufbrach, dachte Danny. Laut dem Krankenwagenfahrer hatte es in Honey Harbour auch »ein Prachtexemplar von einem Frontalzusammenstoß« gegeben sowie einen angeblich »blitzsauberen Auffahrunfall« in der Nähe von Port Severn. Das Landleben im Winter war eine harte Angelegenheit: vom Schnee verschleiert, von Alkohol angetrieben, gewalttätig und hektisch.
Diese zehn Wochen, die Danny in der Nähe von Pointe au Baril Station verbrachte, waren eine geballte Ladung Landleben; Ketchum hätte das vielleicht nicht genügt, doch für Danny reichte es aus. Für den Schriftsteller waren diese zehn Wochen genau die
erforderliche
Dosis Landleben - egal, ob Ketchum dies hätte gelten lassen oder nicht.
Das dunkle Restaurant,
der achte und letzte Roman von »Danny Angel«, erschien 2002, sieben Jahre nach
Baby auf der Straße.
Was Danny Ketchum prophezeit hatte, traf weitgehend ein - seine Verleger beklagten sich nämlich, von dem Buch eines unbekannten Schriftstellers namens Daniel Baciagalupo ließen sich unmöglich so viele Exemplare verkaufen wie von einem neuen Roman Danny Angels.
Doch Danny machte seinen Verlegern klar, dass
Das dunkle Restaurant
das allerletzte Buch sei, das er unter dem Namen Angel veröffentlichen werde. Auch nannte er sich von da an in allen Interviews nur noch Daniel Baciagalupo; immer und immer wieder erzählte er die Geschichte der Umstände, die ihn als jungen Mann und angehenden Schriftsteller gezwungen hatten, ein Pseudonym anzunehmen. Es war weder
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