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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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beiden Händen umklammernd, trat der Junge an das Bett und zielte dorthin, wo er den Kopf des Bären vermutete. Er hatte schon ausgeholt (wie es ihm Ketchum einmal mit einer Axt vorgemacht hatte, achtete er darauf, dass seine Hüffen beim Ausholen mitschwangen), als er die nackten Sohlen zweier offensichtlich menschlicher Füße bemerkte. Die Füße befanden sich in Gebetsstellung, links und rechts von den nackten Knien seines Vaters, und Danny dachte, dass diese Füße genau wie die von Jane aussahen. Die indianische Tellerwäscherin war den ganzen Tag auf den Beinen, und einer Frau, die so schwer war wie sie, taten die Füße zwangsläufig oftweh. Nichts (so hatte sie dem Jungen erzählt) mochte sie lieber als eine Fußmassage. Danny hatte ihr mehr als einmal eine verabreicht.
    »Jane?«, fragte Danny - mit leiser, zweifelnder Stimme -, doch die gusseiserne Bratpfanne setzte ihre Vorwärtsbewegung ungebremst fort.
    Offenbar hatte Jane gehört, dass der Junge ihren Namen rief, denn sie hob den Kopf und drehte sich zu ihm um. Deshalb erwischte die Pfanne sie mit voller Wucht an der rechten Schläfe. Dem Aufprallgeräusch, einem dumpfen, aber tiefen
Gong,
folgte ein Brennen, das Danny in den Händen spürte. Ein nachklingendes Prickeln zog sich durch beide Handgelenke und die Unterarme hinauf. Solange er lebte oder solange er sich daran erinnerte, sollte es für Danny Baciagalupo ein kleiner Trost sein, dass er den Ausdruck auf Janes hübschem Gesicht nicht sah, als die Pfanne sie traf. Ihre Haare waren so lang, dass sie einfach alles zudeckten.
    Janes mächtiger Körper erzitterte. Sie war zu massig, und ihre Haare waren zu glatt und schön für einen Schwarzbären - das galt für dieses wie für ihr nächstes Leben, wohin sie ganz gewiss unterwegs war. Jane rollte vom Koch hinunter und stürzte zu Boden.
    Jetzt konnte man sie unmöglich mit einem Bären verwechseln. Ihre Haare hatten sich aufgefächert und lagen weit ausgebreitet da, Flügeln gleich, zu beiden Seiten ihres reglosen gewaltigen Torsos. Die großen schönen Brüste waren in ihre Achseln gesackt, die Arme griffen über den Kopf, als wolle Jane (sogar noch im Tod) das schwere Universum stützen. Doch so überwältigend ihre Nacktheit für einen unschuldigen Zwölfjährigen gewesen sein musste, am besten sollte sich Danny Baciagalupo an den entrückten Ausdruck in Janes weit geöffneten Augen erinnern. In Indianer-Janes toten Augen lag mehr als das im letzten Sekundenbruchteil des Lebens erfolgte Erkennen ihres Schicksals. Was hatte sie plötzlich in der unermesslichen Entfernung entdeckt?, fragte sich Danny. Doch was auch immer Jane von der unvorhersehbaren Zukunft erblickt hatte, es hatte ihr offenbar Angst gemacht - vielleicht nicht nur ihr Schicksal, sondern ihrer aller Schicksal.
    »Jane«, wiederholte Danny. Diesmal war es keine Frage, selbst wenn das Herz des Jungen raste und ihm bestimmt viele Fragen durch den Kopf schössen. Auch schenkte Danny seinem Dad nicht mehr als einen flüchtigen Blick. War es die Nacktheit seines Vaters, die den Jungen so schnell wieder wegsehen ließ? (Vielleicht lag es an dem, wie Ketchum es nannte, »Kleiner-Mann-Aspekt« des Kochs; besagter Aspekt trat neben der toten Tellerwäscherin besonders deutlich hervor.) »Jane!«, schrie Danny zum dritten Mal, als hätte er erst begriffen, was er ihr angetan hatte.
    Rasch bedeckte der Koch Janes Geschlecht mit einem Kissen. Er kniete auf ihren überall verteilten Haaren und hielt sein Ohr an ihr stilles Herz. Danny umklammerte mit beiden Händen die Pfanne, als schmerzten ihm von dem Nachhall des Schlages noch die Handflächen; womöglich würde das Prickeln in seinen Unterarmen nie wieder weggehen. Obwohl Danny Baciagalupo erst zwölf war, wusste er ganz genau, dass soeben der Rest seines Lebens begonnen hatte. »Ich dachte, sie wäre ein Bär«, sagte er zu seinem Vater.
    Dominic hätte nicht bestürzter dreinblicken können, wenn sich die tote Tellerwäscherin in diesem Augenblick in einen Bären verwandelt hätte. Dennoch erkannte der Koch, dass sein geliebter Daniel jetzt Trost brauchte. Zitternd stand der Junge da und umklammerte die Tatwaffe, als glaubte er, gleich werde ein richtiger Bär über sie beide herfallen.
    »Es ist verständlich, dass du Jane für einen Bären gehalten hast«, sagte sein Vater und schloss ihn in die Arme. Der Koch nahm seinem bibbernden Sohn die Bratpfanne weg und umarmte ihn erneut. »Es ist nicht deine Schuld, Daniel. Es war ein

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