Letzte Nacht in Twisted River
Unfall.
Niemand
ist schuld.«
»Wie kann
niemand
schuld daran sein?«, fragte der Zwölfjährige.
»Dann ist es halt
meine
Schuld«, sagte sein Dad. »Es wird nie deine Schuld sein, Daniel. Es ist ganz allein meine.
Und
es war ein Unfall.«
Natürlich dachte der Koch bereits an Constable Carl. In der Welt des Constable gab es keine Unfälle ohne persönliche Schuld. Im Gehirn, wenn man das so nennen konnte, des Cowboys zählten gute Absichten überhaupt nichts. Dich kannst du nicht retten, aber deinen Sohn kannst du retten, dachte Dominic Baciagalupo. (Und wie viele Jahre würde der Koch sie beide retten können?)
So lange hatte Danny darauf gewartet, mit anzusehen, wie Jane ihren Zopf löste und ihre Haare herunterließ - ganz zu schweigen davon, wie ofter geträumt hatte, ihre gewaltigen Brüste zu sehen. Und jetzt konnte er Jane nicht einmal angucken. »Ich habe Jane geliebt!«, platzte es aus dem Jungen heraus.
»Natürlich hast du das, Daniel - das weiß ich doch.«
»Hast du mit ihr Do-si-do gemacht?«, fragte der Zwölfjährige.
»Ja«, antwortete sein Vater. »Ich habe Jane auch geliebt. Wenngleich nicht so, wie ich deine Mom geliebt habe«, fügte er hinzu. Warum war ihm diese Ergänzung wichtig?, fragte sich der Koch schuldbewusst. Dominic hatte Jane wirklich geliebt; vermutlich zollte er der Tatsache Tribut, dass jetzt keine Zeit war, um sie zu trauern.
»Was ist mit deiner Lippe passiert?«, fragte der Junge.
»Sixpack hat sie mir mit dem Ellbogen aufgeschlagen«, antwortete der Koch.
»Hast du auch mit Sixpack do-si-do gemacht?«, fragte ihn sein Sohn.
»Nein, Daniel. Jane war meine Freundin - und nur Jane.«
»Was ist mit Constable Carl?«, fragte Danny.
»Wir haben noch viel zu tun.« Mehr verriet ihm sein Dad nicht. Und ihnen blieb nicht viel Zeit, das wusste der Koch. Nicht mehr lange, und draußen wurde es hell; sie mussten los.
Das anschließende Durcheinander, ihre blanke Unbeholfenheit und die Hektik lieferten dem Koch und seinem Sohn später zahlreiche Gründe, die Nacht ihrer Abreise aus Twisted River noch einmal zu durchleben - allerdings hatten sie an die Einzelheiten ihres erzwungenen Aufbruchs unterschiedliche Erinnerungen. Für Danny war das Ankleiden der Toten - ganz zu schweigen davon, ihre Leiche die Treppe des Kochhauses hinunterzuzerren und in ihren Pick-up zu hieven - eine herkulische Aufgabe. Auch begriff der Junge zunächst nicht, weshalb es seinem Vater so wichtig war, dass Jane
korrekt
gekleidet war, nämlich genau so, wie sie sich selbst angezogen hätte. Nichts durfte fehlen, nichts falsch sitzen. Die Träger ihres riesigen bhs durften nicht verdreht sein; der Bund ihrer gewaltigen Boxershorts durfte nicht umgeklappt sein; die Socken durften nicht auf links an ihren Füßen stecken.
Sie ist doch
tot!
Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?, dachte Danny. Der Junge bedachte nicht, wie peinlich genau Indianer-Janes Leiche bald untersucht werden könnte - welche Todesursache der zuständige Arzt beispielsweise feststellen würde. (Ein Schlag gegen den Kopf, offenkundig, aber mit welchem Gegenstand - und wo war er?) Auch der ungefähre Todeszeitpunkt würde ermittelt werden. Offenbar wollte der Koch unbedingt den Eindruck erwecken, dass Jane zum Zeitpunkt ihres Todes komplett bekleidet gewesen war.
Und Dominic, der würde Ketchum ewig dankbar sein - schließlich hatte Ketchum auf einer seiner Sauftouren nach Maine eine Sackkarre für das Kochhaus organisiert. Die Sackkarre war praktisch, um die haltbaren Lebensmittel von den Lastwagen abzuladen, ebenso wie die Kartons mit Olivenöl und Ahornsirup - sogar Eierkartons und überhaupt alles Schwere.
Der Koch und sein Sohn hatten Jane auf die Sackkarre geschnallt. So konnten die beiden sie in einer halbwegs aufrechten Position die Treppe im Kochhaus hinunterschaffen und sie stehend (beinahe senkrecht) zu ihrem Pick-up rollen. Allerdings war die Sackkarre keine Hilfe gewesen, als sie Indianer-Jane ins Fahrerhaus bugsieren mussten, was der Koch im Nachhinein den »herkulischen« Teil der Prozedur nannte - oder einen von mehreren herkulischen Teilen.
Das Tatwerkzeug, die gusseiserne Bratpfanne von zwanzig Zentimeter Durchmesser, packte Dominic Baciagalupo zu seinen wichtigsten Küchenutensilien - nämlich seinen Lieblingskochbüchern. Der Koch wusste, dass er weder Zeit noch genügend Platz hatte, um seine Gerätschaften mitzunehmen. Die anderen Töpfe und Pfannen blieben im Kochhaus; die übrigen Kochbücher (und
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