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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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und umgekehrt. Dominics Spitzname im Vicino di Napoli, wo man ihn beinahe sofort als Assistenten von Chefkoch Tony Molinari und Pizzabäcker Paul Polcari einstellte, war Gambacorta (»kurzes Bein«, eine liebevolle Anspielung auf sein Hinken), was rasch zu Gamba (nur »Bein«) abgekürzt wurde. Aber Dominic befand, dass für sein Leben außerhalb des Restaurants weder Gambacorta noch Gamba ein angemessener Nachname waren - nicht für einen Koch.
    »Wie wär's mit Buonvino?«, schlug der alte Giuse Polcari vor. (Das hieß »guter Wein«, doch Dominic trank keinen Alkohol.)
    Buonopane (»gutes Brot«) war Tony Molinaris Vorschlag, während Paul Polcari, der Pizzabäcker, für Capobianco (»weißer Kopf«) plädierte, weil er selbst wegen des Mehls meist überall weiß war. Aber für einen Mann mit Dominics nüchternem Temperament waren diese Namen zu albern.
    Schon an ihrem ersten Abend im North End hätte Danny vorhersagen können, für welchen Nachnamen sich sein Dad entscheiden würde. Als Vater und Sohn die Witwe Del Popolo zu ihrem Backstein-Mietshaus in der Charter Street begleiteten - Carmella wohnte in einer Dreizimmerwohnung in der Nähe des alten Badehauses und des Copps-Hill-Friedhofs, ohne Fahrstuhl, und heißes Wasser gab es nur, wenn sie es auf dem Gasherd erhitzte -, sah der junge Dan weit genug in die Zukunft seines Vaters, um zu erkennen, dass Dominic Baciagalupo rasch in die Fußstapfen des ertrunkenen Fischers treten würde. Zwar hatten sie nicht die gleiche Schuhgröße, doch Carmella sollte eines Tages zu ihrer Freude feststellen, dass Dominic die Kleidung ihres verblichenen Ehemanns tragen konnte - der Koch und der glücklose Fischer waren beide eher schmächtig, genau wie Danny, der bald Angels ehemalige Klamotten tragen sollte. Natürlich brauchten Vater und Sohn Stadtkleidung. Die Leute in Boston kleideten sich anders als die im Coos County. Danny Baciagalupo, der Ketchums Rat bezüglich Namensänderung (zunächst)
nicht
befolgte, war nicht überrascht, als sein Dad Dominic Del Popolo wurde (schließlich war er ein Koch »des Volkes«) - wenn auch noch nicht an diesem ersten Abend im North End.
    In Carmellas Küche stand eine Badewanne. Sie war größer als der Küchentisch, um den sich bereits die erforderlichen drei Stühle gruppierten. Auf dem Gasherd standen zwei große Nudeltöpfe voll Wasser, das immer heiß war, aber nicht kochte. Zum Essenkochen benutzte Carmella ihre Küche selten. Das heiße Wasser auf dem Herd brauchte sie zum Baden. Für eine Frau, die in einer Mietwohnung mit kaltem Wasser wohnte, war sie ausgesprochen reinlich und duftete herrlich; nur mit Angels Hilfe hatte sie die Gasrechnung bezahlen können. Damals gab es für junge Männer in Angels Alter im North End nicht genug Arbeit, oder nur stundenweise. Junge Männer, die kräftig genug waren, fanden im Norden, in Maine und New Hampshire, eher eine feste Ganztagsstelle, doch die Arbeit dort oben konnte gefährlich sein, wie der arme Angel erfahren musste.
    Danny und sein Dad saßen mit Carmella an dem kleinen Küchentisch. Sie weinte, und die beiden erzählten der schluchzenden Mutter Geschichten über ihren ertrunkenen Sohn; unweigerlich kamen sie dabei auch auf Ketchum zu sprechen. Als Carmellas Tränen vorübergehend versiegten, gingen die drei, da sie inzwischen hungrig waren, zurück ins Vicino di Napoli, wo es sonntags abends nur Pizza oder einfache Pastagerichte gab. (Damals war für die meisten Italiener am Sonntag das Mittagessen die Hauptmahlzeit.) Auch schloss das Restaurant an Sonntagabenden früh. Sobald die Gäste gegangen waren, bereiteten die Köche ein Essen für das Personal zu. An den meisten anderen Abenden hatte das Restaurant recht lange offen, und die Köche verpflegten sich und das Personal nachmittags, vor dem Abendessen.
    Der alte Besitzer und Oberkellner hatte damit gerechnet, dass die drei zurückkamen. Man hatte vier der kleinen Tische zusammengeschoben, und es war bereits für sie gedeckt. Sie aßen und tranken wie bei einem Leichenschmaus, hielten nur inne, um zu weinen - alle außer Danny weinten - und um auf den toten Jungen anzustoßen, den sie alle geliebt hatten. Danny und sein Dad rührten allerdings keinen Tropfen Wein an. Immer wieder wurde das Ave Maria gebetet, häufig im Chor, auch wenn es weder einen offenen Sarg gab noch eine nächtliche Totenwache. Ketchum wisse, dass Angel Italiener war, hatte Dominic den Trauernden versichert; der Flößer habe mit den Frankokanadiern

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