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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gebeten, ihn zum Postamt mitzunehmen, und ihr erzählt, Versande nach Kanada seien kompliziert, in Wirklichkeit hatte er seiner Mom Geld überwiesen. Offensichtlich hatte er ihr auch treu und brav geschrieben, wenn sie wusste, dass der Koch und sein Sohn sich mit ihrem Jungen angefreundet hatten. Unvermittelt fragte sie nach Ketchum.
    »Ist Mr. Ketchum bei euch?«, fragte Carmella Danny und hielt sein Gesicht in ihren warmen Händen. (Vielleicht trug dieser Moment der Sprachlosigkeit dazu bei, dass Daniel Baciagalupo Schriftsteller wurde. Diese Momente, in denen man weiß, dass man etwas sagen sollte, einem die richtigen Worte aber nicht einfallen - als Schriftsteller kann man diesen Momenten nicht genug Bedeutung beimessen.) Jetzt erst schien Carmella zu bemerken, dass sie die Einzigen im Speiseraum waren und auch in der Küche keiner zu sehen war. Die arme Frau deutete das so, dass man sie überraschen wollte. Vielleicht war Angelù zu einem unangekündigten Besuch gekommen? Versteckten die anderen ihren Liebling in der Küche und hielten darum totenstill? »Angelù!«, rief Carmella. »Bist du auch da und hast Mr. Ketchum mitgebracht? Angelù?«
    Als sich Daniel Baciagalupo Jahre später an das Schriftstellerdasein gewöhnt hatte, kam er zu dem Schluss, dass das, was sich damals in der Küche zugetragen hatte, nur natürlich war. Sie waren keine Feiglinge, sondern nur Menschen, die Carmella Del Popolo liebten und es nicht ertrugen, sie leiden zu sehen. Doch damals war Danny entsetzt gewesen. Paul Polcari, der Pizzabäcker, hielt es nicht länger aus. »Angelù!«, jammerte er laut.
    »Nein! Nein! Nein!«, intonierte sein alter Vater.
    »Angelù, Angelù«, rief Tony Molinari leiser.
    Auch die jungen Frauen und der Knabe in Angels Alter stimmten den Namen des Jungen an. Diesen Chor hatte Carmella nicht erwartet; aus der Küche drangen so klägliche Laute, dass die arme Frau sich ratlos zu Dominic umdrehte, in dessen Miene sie aber nur Trauer und Panik las. Danny konnte Angels Mom nicht ansehen - das wäre so gewesen, als würde er Indianer-Jane ansehen, eine halbe Sekunde ehe die Pfanne sie traf.
    Zum Abschied hatte der alte Polcari unter dem nächsten Tisch einen Stuhl hervorgezogen - noch bevor er Carmella aufgefordert hatte, sich zu setzen -, und Carmella setzte sich weniger, als dass sie auf dem Stuhl zusammenbrach. Der olivbraune Schimmer wich aus ihrem Gesicht. Auf einmal hatte sie das Portemonnaie ihres Sohnes in Dannys kleinen Händen entdeckt, doch als sie danach griff und fühlte, wie nass und kalt es war, wankte sie zurück und sank auf den Stuhl. Dominic eilte zu ihr und hielt sie fest, kniete sich neben sie, legte einen Arm um ihre Schultern, und Danny kniete spontan zu ihren Füßen nieder.
    Sie trug einen schwarzen Seidenrock und eine hübsche weiße Bluse - bald würde sie mit Tränen benetzt sein -, und als sie in Dannys dunkle Augen schaute, sah sie wohl ihren Sohn, wie sie ihn in Erinnerung hatte, denn sie zog den Kopf des Jungen in ihren Schoß und hielt ihn fest, als wäre
er
ihr verschwundener Angelù.
    »Nicht Angelù!«, rief sie.
    Einer der Köche in der Küche schlug jetzt rhythmisch mit einem Holzlöffel auf einen Nudeltopf. Wie ein Echo rief er: »Nicht Angelù!«
    »Es tut mir so leid«, hörte Dan seinen Dad sagen.
    »Er ist ertrunken«, sagte der Junge von Carmellas Schoß aus; er spürte, wie sie seinen Kopf noch fester packte, und wieder sah er die nahe Zukunft vor sich. Solange er bei seinem Dad und Carmella Del Popolo wohnte, würde er ihr Ersatz-Angelù sein. (»Du kannst dem Jungen nicht vorwerfen, dass er wegwill, ins Internat«, sollte Ketchum eines Tages seinem alten Freund schreiben. »Wirf es mir vor, wenn du willst, Cookie, aber nicht Danny.«)
    »Nicht
ertrunken!«,
übertönte Carmella den Krach aus der Küche. Danny hörte zwar nicht, was sein Vater der Verzweifelten ins Ohr flüsterte, er spürte aber, wie ihr Körper von Schluchzern geschüttelt wurde, und es gelang ihm, seinen Kopf auf ihrem Schoß leicht zu drehen - so dass er die Trauernden aus der Küche kommen sah. Ohne Töpfe, Pfannen oder Holzlöffel, sie brachten nur sich selbst mit, die Gesichter tränenüberströmt. (Das Gesicht von Paul, dem Pizzabäcker, war außerdem mit Mehl bepudert.) Doch Daniel Baciagalupo hatte seine Phantasie und musste gar nicht hören, was sein Dad in Carmellas Ohr flüsterte. Das Wort
Unfall
gehörte bestimmt dazu - schließlich lebten sie in einer Welt voller Unfälle, wie der

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