Letzte Nacht in Twisted River
Junge und sein Dad schon wussten.
»Das sind gute Menschen«, sagte der alte Polcari gerade; es klang wie ein Gebet. Später erst wurde Danny klar, dass Joe Polcari nicht gebetet, sondern über den Koch und seinen Sohn »ause dem Norden« gesprochen hatte. Und tatsächlich begleiteten der Junge und sein Vater schließlich Carmella nach Hause. (Dabei mussten die beiden sie stützen, sie war ein paarmal einer Ohnmacht nahe - aber sie war bestimmt fast fünfzig Kilo leichter als Jane, und Carmella
lebte
noch.)
Doch bevor sie an diesem Nachmittag das Vicino di Napoli verließen - als sein Kopf noch auf dem Schoß der verzweifelten Mutter lag -, hatte Daniel Baciagalupo einen anderen Schriftstellertrick begriffen. Er beherrschte diesen Kniff bereits, würde ihn aber beim Schreiben erst etliche Jahre später anwenden. Schriftsteller müssen sich distanzieren können, müssen
Abstand
gewinnen von diesem oder jenem emotionalen Augenblick, und das konnte Danny schon, mit gerade mal zwölf. Den Kopf fest in Carmellas warmem Griff, setzte sich der Junge ab,
entfernte
sich schlicht aus diesem Tableau. Als blickte er vom Pizzaofen aus auf die Szene oder, mit mindestens so viel Distanz zu den Trauernden, als stünde er in der Küche, auf der anderen Seite der Theke, sah Danny, wie sich die Belegschaff des Vicino di Napoli um die sitzende Carmella und seinen knienden Dad versammelt hatte.
Der alte Polcari stand hinter Carmella, eine Hand auf ihren Nacken gelegt, die andere auf sein Herz. Sein Sohn Paul, der Pizzabäcker, stand mit gesenktem Kopf in seiner Mehlaura neben Carmella - in perfekter Symmetrie zu Dominic, der zu ihrer anderen Seite kniete. Die beiden jungen Kellnerinnen, die bei Carmella in die Lehre gingen, knieten auf dem Boden direkt hinter Danny, der - von der Küche aus - sich selbst sah, den Kopf in Carmellas Schoß vergraben. Der andere Koch - der Küchenchef oder Chefkoch Tony Molinari - stand ein wenig abseits, den Arm um die schmalen Schultern des Jungen gelegt, der etwa in Angels Alter war. (Das war der Hilfskellner, wie Danny bald erfahren sollte, und Hilfskellner würde auch Dannys erster Job im Vicino di Napoli sein.)
In genau diesem traurigen Augenblick betrachtete Daniel Baciagalupo das gesamte Tableau aus der Ferne. Wie viele andere junge Schriftsteller auch würde er am Anfang in der Ich-Perspektive schreiben, und der gequälte erste Satz eines seiner frühen Romane würde sich (teilweise) auf diese Beinahe-Pietä an jenem Aprilsonntag im Vicino di Napoli beziehen. In den Worten des Jungautors: »Ich wurde Mitglied einer Familie, mit der ich überhaupt nicht verwandt war - lange bevor ich auch nur annähernd genug über meine eigene Familie wusste oder über das Dilemma, mit dem sich mein Vater in meiner frühen Kindheit konfrontiert sah.«
»Baciagalupo muss weg«, hatte Ketchum ihnen geschrieben. »Für den Fall, dass Carl nach euch sucht, solltet ihr euren Nachnamen ändern, nur um sicherzugehen.« Doch Danny hatte sich geweigert. Daniel Baciagalupo war stolz auf seinen Namen, er empfand sogar einen gewissen rebellischen Stolz auf das, was ihm sein Vater über die Geschichte des Namens erzählt hatte. All die Jahre, in denen ihn die Kids in West Dummer einen Spaghettifresser oder Itaker genannt hatten, hatten in Dan das Gefühl geweckt, sich seinen Namen
verdient
zu haben; weshalb sollte er jetzt, in dem Italienerviertel North End, den Namen Baciagalupo ablegen? Außerdem würde der Cowboy,
falls
er kam, einen
Dominic
Baciagalupo suchen, keinen Daniel.
Dominic empfand da anders. Für ihn war Baciagalupo immer ein erfundener Name gewesen. Schließlich hatte Nunzi ihn so getauft - er war ihr Kuss des Wolfes gewesen, obwohl der Name Saetta eigentlich logischer gewesen wäre oder wenn ihn seine Mutter Capodilupo genannt hätte, und sei es auch nur, um seinen verantwortungslosen Vater zu beschämen (»diese nichtse-nutzige Arscheloche Gennaro«, wie der alte Joe Polcari den notorischen Charmeur und entlassenen Hilfskellner später einmal nannte, der Gott weiß wohin verschwunden war).
Und Dominic standen ziemlich viele Nachnamen zur Auswahl. Jeder in Annunziatas riesiger Familie wollte, dass er ein Saetta wurde, während die zahllosen Nichten und Neffen Rosies - von der engeren Familie seiner verstorbenen Frau ganz zu schweigen - darauf bestanden, dass er ein Calogero wurde. In diese Falle tappte Dominic nicht; er begriff sofort, wie beleidigt die Saettas wären, wenn er den Namen Calogero annahm,
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