Letzte Nacht in Twisted River
sich seine Mutter besser vorstellen, zusätzlich zu den Fotos. Und wenn er versuchte, sich an die im Norden zurückgelassenen Bilder zu erinnern, dann war das eine weitere Spielart davon, sich seine Mutter vorzustellen.
Nur wenige der Fotos, die er mit nach Boston gebracht hatte, waren Farbfotos, und sein Dad hatte Danny gesagt, die Schwarzweißbilder brächten das »tödliche Blau ihrer Augen«, wie Dominic es nannte, »unverfälschter« rüber. (Wieso »tödlich«?, fragte sich der spätere Schriftsteller. Und wie konnten die Schwarzweißfotos die blauen Augen seiner Mutter »unverfälschter« darstellen als die anderen mit ihren Kodak-Farben?)
Rosie hatte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar, aber eine erstaunlich helle Haut gehabt, dazu zarte, wie gemeißelte Gesichtszüge, die sie noch zierlicher wirken ließen, als sie ohnehin schon war. Als Danny dann all die Calogeros kennenlernte, darunter die jüngeren Schwestern seiner Mutter, stellte er fest, dass zwei seiner Tanten klein und hübsch waren, wie seine Mutter auf den Fotos, und die jüngste von ihnen, Filomena, ebenfalls blaue Augen hatte. Er konnte nicht anders, als sie ständig anzusehen - sie musste etwa so alt sein wie seine Mutter bei ihrem Tod (Mitte bis Ende zwanzig, schätzte Danny). Doch ihm fiel auch auf, dass sein Vater dann stets darauf hinwies, Filomenas Augen hätten nicht das gleiche Blau wie die seiner Mom. (Vielleicht nicht
tödlich
genug, vermutete der Junge.) Danny fiel zudem auf, dass sein Dad kaum mit Filomena sprach. Dominic war ihr gegenüber fast unhöflich, er ignorierte sie geflissentlich und machte ihr nie Komplimente über ihre Kleidung.
War es sein Schriftstellerblick, der Daniel Baciagalupo solche bezeichnenden Details bemerken ließ? Sah der Junge bereits so etwas wie ein sich herausbildendes Muster darin, dass sich sein Vater nacheinander zu Indianer-Jane und Carmella Del Popolo hingezogen fühlte - beides füllige Frauen mit dunklen Augen, also ein
Gegensatz
zu Rosie Calogero, wie ihn sich der Zwölfjährige größer nicht vorstellen konnte? Denn wenn Rosie für seinen Dad tatsächlich die Liebe seines Lebens war, könnte es nicht sein, dass Dominic sich
bewusst
den Kontakt zu jeder Frau versagte, die ihr auch nur ein wenig ähnlich sah?
Tatsächlich sollte Ketchum dem Koch eines Tages vorwerfen, Rosie unnatürlich treu geblieben zu sein, indem er sich immer nur Frauen ausgesucht habe, die ihr übertrieben unähnlich sahen. Offenbar hatte Danny Ketchum von Carmella geschrieben und erwähnt, dass sie üppig war, denn der Koch hatte in seinen Briefen an seinen alten Freund mit Bedacht weder die Figur seiner neuen Freundin noch deren Augenfarbe erwähnt. Dominic schrieb Ketchum fast nichts über Angels Mutter und seine aufkeimende Beziehung zu ihr. Auf Ketchums vorwurfsvollen Brief reagierte Dominic nicht einmal, doch ihn ärgerte die Kritik des Holzfällers an seinem angeblichen Frauengeschmack. Damals war Ketchum noch mit Sixpack-Pam zusammen - apropos Frauen, die
das Gegenteil
von Nicht-ganz-Cousine Rosie waren!
Wollte er sich an Pam erinnern, so musste Dominic nur einen Blick in den Spiegel werfen; die Narbe auf seiner Unterlippe war auch lange nach Sixpacks Attacke noch sichtbar. Dass Ketchum und Sixpack recht lange ein Paar blieben, erstaunte Dominic Del Popolo, vormals Baciagalupo. Doch sie blieben einige Jahre länger zusammen, als Dominic mit Indianer-Jane zusammen gewesen war - sogar
etwas
länger als der Koch mit Carmella Del Popolo, Angels fülliger, aber zauberhafter Mom.
Als Vater und Sohn an ihrem ersten Morgen in Boston erwachten, war aus der kleinen Küche das aufreizende Geplätscher von Carmellas morgendlichem Bad zu hören. Aus Respekt vor ihrer Privatsphäre blieben Dominic und Danny in ihren Betten liegen, während Carmella ihre verführerisch klingenden Waschungen vornahm; die beiden konnten nicht ahnen, dass sie einen dritten und einen vierten Topf mit Wasser auf den Herd gestellt hatte, es kochte schon fast. »Hier gibt's jede Menge heißes Wasser!«, rief sie aus der Küche. »Wer will als Nächster baden?«
Weil er sich schon überlegt hatte, ob er wohl, wenn auch knapp, mit Carmella Del Popolo in die große Wanne passen würde, schlug der Koch etwas unsensibel vor, er und Daniel könnten sich ein Bad teilen - er meinte dasselbe Badewasser -, eine Vorstellung, die der Zwölfjährige abstoßend fand. »Nein, Dad!«, widersprach der Junge energisch von dem schmalen Bett in Angels Zimmer
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