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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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volkstümlichen Restaurant erlebte, in dem der Vater des Jungen und die tragische Witwe arbeiteten -, tja, dann ließe sich schlicht nicht übersehen, wie sehr Danny Baciagalupo aus seinem Umfeld herausstach. Und der Junge
stach
heraus, doch Danny hätte überall herausgestochen, nicht nur im North End, aber das schrieb Mr. Leary nicht. Wie sich herausstellte, hatte er genug geschrieben.
    Sein Brief hatte die erwünschte Wirkung. »Unfassbar, dieser Kerl!«, rief vermutlich der Erste im Sekretariat von Exeter, der den Brief las (gemeint war Mr. Leary mit seinen zahlreichen Vorurteilen). Der Brief wurde an den nächsten Leser weitergereicht. Höchstwahrscheinlich lasen ihn jede Menge Menschen in Exeter, darunter auch genau der »Stipendiumsmensch«, auf den Mr. Leary es von Anfang an abgesehen hatte.
    Und dieser Mensch sagte zweifellos: »Das muss ich mir ansehen«, womit er nicht nur die Mickey und Mr. Leary meinte, sondern auch die Lebensumstände des unterprivilegierten Italoamerikaners Daniel Baciagalupo.
    Es gab noch viel mehr, was Mr. Leary
nicht
geschrieben hatte. Warum sollte man Exeter mit der übersteigerten Phantasie des Jungen behelligen? Was war doch gleich dem Vater in einer dieser Geschichten widerfahren? Ein
Bär
hatte seinen Fuß gefressen - ihn für immer verkrüppelt -, doch irgendwie war es dem verstümmelten Mann gelungen, das Tier mit einer Bratpfanne in die Flucht zu schlagen! Und derselbe verkrüppelte Mann hatte seine Frau bei einem Squaredance-Unfall verloren. Es hatte im Freien auf einem Schiffssteg einen Squaredance gegeben, der Steg war eingestürzt, und sämtliche Tänzer waren ertrunken. Und der Mann, dessen Fuß vom Bären gefressen worden war, hatte überlebt, weil er nicht tanzen konnte! (Er beobachtete den Tanz nur aus der Ferne, wenn Mr. Learys Gedächtnis ihn nicht trog - das war alles völlig grotesk, aber gut geschrieben, wirklich gut geschrieben.)
    Es gab sogar einen Freund dieser fiktiven Familie, dem ein korrupter Polizist einen Hirnschaden zugefügt hatte. Das Opfer war ein untypischer Holzfäller - »untypisch«, wie Mr. Leary fand, weil der Holzfäller als begeisterter Leser geschildert wurde. Und was noch unwahrscheinlicher war, der Polizist hatte ihn so übel zusammengeschlagen, dass der Mann das Lesen verlernt hatte! Und dann die
Frauen
in Daniel Baciagalupos Geschichten - Gott im Himmel, steh mir bei!, dachte Mr. Leary.
    Es gab da eine Indianerin aus einem dortigen Stamm - die Geschichte mit dem verkrüppelten Mann spielte in der Pampa, oben im Norden von New Hampshire, und es kam ein Tanzsaal vor, in dem nicht getanzt wurde. (Also wirklich, hatte Mr. Leary bei der Lektüre gedacht, wozu sollte
das
denn gut sein?) Doch die Geschichte war wie immer toll geschrieben, und die Indianerin wog 150 oder 180 Kilo, und ihre Haare reichten ihr bis über die Taille, was dazu führte, dass ein geistig zurückgebliebener Junge (der Sohn des Bärenopfers) auch die
Indianerin
für einen Bären hielt! Der unglückselige Schwachkopf glaubte sogar,
derselbe
Bär sei zurückgekommen, um auch den Rest seines Dads zu fressen, dabei hatte die Indianerin in Wirklichkeit Sex mit dem Krüppel - und zwar in der
Reiterstellung,
jedenfalls musste Mr. Leary das annehmen.
    Doch als der Lehrer darüber eine Bemerkung machte (»Offenbar befand sich die Indianerin in der - äh -
Reiterstellung«),
sah ihn Danny Baciagalupo verständnislos an. Der junge Schriftsteller wusste nicht, was Mr. Leary meinte.
    »Nein, sie war einfach nur oben«, hatte Danny geantwortet. Der Lehrer hatte bewundernd gelächelt. In seinen Augen war Daniel Baciagalupo ein Rohdiamant, ein zukünftiges Genie; der Wunderknabe konnte einfach nichts verkehrt machen.
    Doch was mit der übergewichtigen Indianerin geschah, war grauenhaft. Der geistig behinderte Junge hatte sie
erschlagen,
und zwar mit genau derselben Bratpfanne, die sein Vater als Waffe gegen den Bären verwendet hatte! Vor allem bei der Schilderung der nackten, toten Indianerin und wie sie tot dagelegen hatte, war der junge Baciagalupo auf der Höhe seiner Beschreibungskunst. Rasch hatte der umsichtige Vater ihr entblößtes Geschlecht mit einem Kissen bedeckt - vielleicht, um seinem verstörten Sohn ein weiteres Missverständnis zu ersparen. Doch der Junge hatte bereits mehr gesehen, als seine begrenzte Intelligenz verarbeiten konnte. Noch jahrelang verfolgte ihn das Bild der riesigen Brüste der Toten, die schlaff in ihre Achselhöhlen gesackt waren. Woher nahm der

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