Letzte Nacht in Twisted River
der noch ganz bei Trost war, würde sich eine Geschichte ausdenken und versuchen, sie Ketchum unterzujubeln. Außerdem wollte Dan Ketchum vor allem sein Herz ausschütten. Viele Briefe an ihn begannen mit dem Halbsatz: »Du weißt, wie sehr ich meinen Dad liebe, ja wirklich, aber...«, und so weiter.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: Der Koch hatte seinem Sohn Dinge verheimlicht, und Danny war jetzt (besonders in der siebten und achten Klasse) alt genug, um selbst Dinge zu verheimlichen. Er war dreizehn zu Beginn der siebten Klasse, als er Mr. Leary kennenlernte; am Ende der achten Klasse war der junge Baciagalupo fünfzehn. Er war vierzehn
und
fünfzehn zu der Zeit, als er seinem Englischlehrer die Geschichten zeigte, die er sich immer zwanghafter ausdachte.
Trotz Mr. Learys Bedenken, was die Themen - also vor allem die sexuellen - betraf, fand der kluge irische Uhu für seinen Lieblingsschüler immer nur lobende Worte. Der junge Baciagalupo würde Schriftsteller werden, daran gab es für Mr. Leary überhaupt keinen Zweifel.
In Sachen Exeter drückte der Englischlehrer weiter die Daumen. Falls man den Jungen aufnahm, sagte sich Mr. Leary, wäre die Schule hoffentlich streng genug, um ihn vor den unappetitlicheren Auswüchsen seiner Phantasie zu retten. In Exeter war das Erlernen des
Schreibhandwerks
vielleicht so anstrengend und zeitaufwendig, dass aus Danny ein
intellektuellerer
Schriftsteller würde. (Doch was genau hieß das? Ein weniger
kreativer
Autor?)
Mr. Leary wusste selbst nicht recht, was seine rätselhafte Theorie bedeutete (wenn Danny ein intellektuellerer Autor würde, machte ihn das vielleicht zu einem weniger kreativen Schriftsteller),
falls
das wirklich seine Theorie war, aber die Absichten des Lehrers waren gut. Mr. Leary wollte für den jungen Baciagalupo nur das Beste, und obwohl er nie auch nur ein Wort kritisiert hätte, das Dan geschrieben hatte, lehnte sich der alte Englischlehrer einmal doch weit aus dem Fenster und machte einen gewagten Vorschlag. (Nun,
so
gewagt war der Vorschlag gar nicht, er kam Mr. Leary nur so vor.) Zufällig war das kurz vor der Schlammperiode in Dannys achtem Schuljahr, also im März 1957, als der Junge gerade erst 15 geworden war und wie sein Lehrer auf Nachricht aus Exeter wartete. Dass Mr. Leary den obenerwähnten »gewagten Vorschlag« machte, brachte Daniel Baciagalupo Jahre später dazu, eine eigene Version von Ketchums häufigem Ausruf niederzuschreiben.
»Anscheinend passiert der ganze Scheiß immer in der Schlammperiode!«, beschwerte sich Ketchum regelmäßig, wogegen die Tatsache zu sprechen schien, dass der Koch und seine geliebte Cousine Rosie in der Schlammperiode geheiratet hatten und Dan kurz zuvor geboren worden war. (Natürlich gab es in Boston keine richtige Schlammperiode.)
»Danny?«, fragte Mr. Leary zögernd, fast so, als frage er sich, ob der Junge wirklich so hieß. »Später einmal, als Schriftsteller, solltest du dir eventuell ein Pseudonym überlegen.«
»Ein
was?«,
fragte der Fünfzehnjährige.
»Einen Künstlernamen. Manche Schriftsteller suchen sich einen eigenen Namen aus, statt unter ihrem echten Namen zu veröffentlichen. Das entsprechende Fremdwort heißt Pseudonym«, erklärte der Lehrer. Mr. Leary schlug das Herz bis zum Hals, denn der junge Baciagalupo wirkte, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen.
»Baciagalupo muss weg, meinen Sie das?«, sagte Danny.
»Es ist nur so, dass sich andere Namen leichter aussprechen und merken lassen«, teilte Mr. Leary seinem Lieblingsschüler mit. »Ich dachte mir, da ja dein Vater seinen Namen geändert hat - die Witwe Del Popolo ist schließlich keine Baciagalupo geworden, oder? -, also, da dachte ich mir lediglich, du würdest vielleicht auch nicht so schrecklich an dem Namen Baciagalupo hängen.«
»Ich hänge
sehr
daran«, sagte Danny.
»Ja, das merke ich gerade - dann halte unbedingt an dem Namen fest!«, sagte Mr. Leary mit Nachdruck. (Er fühlte sich furchtbar; er hatte den Jungen nicht beleidigen wollen.)
»Ich finde, Daniel Baciagalupo ist ein guter Name für einen Schriftsteller«, beschied der resolute Fünfzehnjährige seinem Lehrer. »Werden sich meine Leser nicht die Mühe machen, sich meinen Namen zu merken, wenn ich gute Bücher schreibe?«
»Selbstverständlich, Danny!«, rief Mr. Leary. »Das mit dem Pseudonym tut mir leid, es war wirklich unsensibel von mir.«
»Ist schon in Ordnung - ich weiß ja, dass Sie mir nur helfen wollen«, meinte der
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