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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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vermutlich egal gewesen, dass er sich Stripperinnen ansah, oder zumindest hätte ihr diese Zerstreuung weniger ausgemacht, als wenn er wieder geheiratet hätte - was nicht geschehen war. Doch Mr. Leary hatte einige der Stripperinnen so oftauftreten sehen, dass ihn manchmal das Gefühl beschlich, tatsächlich mit ihnen verheiratet zu sein. Er wusste genau, wo bei Peaches, der sogenannten Queen of Shake, der Leberfleck saß (wenn es denn ein Leberfleck war). Lois Dufee - deren Name, wie Mr. Leary glaubte, falsch geschrieben wurde - war 1,93 groß und hatte wasserstoffblonde Haare. Sally Rand tanzte mit Ballons, und eine andere Tänzerin benutzte Federn.
    Was genau er diese und andere Stripperinnen
machen
sah, war gewöhnlich das Thema seiner Beichten in St. Stephen's - dies und das wiederholte Geständnis, dass ihm seine Frau nicht fehlte, nicht mehr. Sie hatte ihm einmal gefehlt, doch dieses Gefühl war verschwunden - so wie seine Frau.
    Seit Mr. Leary nach Exeter geschrieben hatte, schaute er regelmäßig, ehe er nachmittags das North End verließ, noch einmal in der Michelangelo School vorbei und sah nach, ob etwas in seinem Brieffach lag. Während er die Post durchsah, die später an diesem Tag eingetroffen war, sagte er sich im Stillen, er habe in St. Stephen's nun etwas Neues zu beichten - denn dass er dem jungen Baciagalupo ein Pseudonym vorgeschlagen hatte, lastete auf ihm so schwer wie eine Sünde. Aber was wäre Daniel
Leary
doch für ein guter Schriffstellername gewesen!, dachte der alte Ire. Dann sah er den perlgrauen Umschlag mit dem dunkelroten Schriftzug, und wie elegant dieser Schriftzug war!
    Glaubst du es endlich?, dachte Mr. Leary bei sich. Kein Gebet in einem Kirchhof war je vergebens - nicht einmal in diesem ultraitalienischen Garten von St. Leonard. »Gott wird dir helfen -
Dio ti aiuta«,
sagte der listige alte Ire laut, auf Englisch
und
Italienisch (nur um ganz sicherzugehen), ehe er den Umschlag öffnete und den Brief des Stipendiumsmenschen aus Exeter las.
    Mr. Carlisle würde nach Boston kommen. Er wollte die Michelangelo School aufsuchen und Mr. Leary kennenlernen. Mr. Carlisle konnte es kaum erwarten, Daniel Baciagalupo kennenzulernen - und den Vater des Jungen, den Koch, ebenso wie die Stiefmutter des Jungen. Mr. Leary merkte, dass er vielleicht wieder einmal zu weit gegangen war, als er die Witwe Del Popolo Daniels »Stiefmutter« genannt hatte; seines Wissens waren der Koch und die kurvenreiche Kellnerin nicht verheiratet.
    Natürlich war Mr. Leary auch in manch anderer Hinsicht zu weit gegangen. Obwohl Dan seinem Englischlehrer erzählt hatte, sein Dad zögere, den Jungen auf ein Internat zu lassen - und Carmella Del Popolo bei dem bloßen Gedanken daran sogar geweint habe -, hatte Mr. Leary die Unterlagen seines Lieblingsschülers bereits an die ehrwürdige Institution geschickt. Er hatte sogar einige andere Lehrer an der Mickey überredet, für den jungen Baciagalupo Empfehlungsbriefe zu schreiben. Mr. Leary hatte sich sozusagen in Daniel Baciagalupos Namen um die Aufnahme beworben - und zwar ohne den Vater des Jungen davon in Kenntnis zu setzen! Mr. Carlisle sprach in seinem Brief davon, dass die Familie eine Vermögensaufstellung einreichen müsse - wogegen der ziemlich unnahbare Koch Einwände haben mochte, wie Mr. Leary aufging. Er hoffte, nicht (wieder) so weit gegangen zu sein, dass sein Plan wie der mit dem Pseudonym völlig scheiterte. Das Pseudonym war ein peinlicher Fehler gewesen.
    O ja, dachte Mr. Leary, es ist Zeit, mehr zu beten! Doch dann nahm er mutig den Exeter-Brief in die Hand, zusammen mit seinem kleinen Päckchen Gebäck aus der Modern-Konditorei, und begab sich erneut in die Hanover Street - doch diesmal nicht in den Garten des Kirchhofs von St. Leonard, sondern ins Vicino di Napoli, wo er den jungen Baciagalupo wie auch den »ziemlich unnahbaren« Koch (wie Mr. Leary Dannys Dad innerlich nannte) und jene übergewichtige Frau, die Witwe Del Popolo, anzutreffen hoffte.
    Die üppige Kellnerin war einmal zu einem Elternabend gekommen; ihr verstorbener Sohn Angelù war als Siebtklässler ein offener, freundlicher Schüler in Mr. Learys Englischklasse gewesen. Angelù hatte nie zu den ungezogenen Jungs gehört, die Mr. Leary quälten, weil er das O' aus seinem Taufnamen gestrichen hatte. Der junge Del Popolo war auch recht gut im Lesen gewesen, hatte sich aber leicht ablenken lassen, wie Mr. Leary seiner Mutter mitteilte. Dann hatte Angelù die Schule abgebrochen und

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