Letzte Nacht in Twisted River
Junge.
»Wir müssten jetzt eigentlich jeden Augenblick etwas von Exeter hören«, sagte Mr. Leary hastig. Er wollte unbedingt das Thema wechseln und das Pseudonymdebakel hinter sich lassen.
»Hoffentlich«, sagte Danny Baciagalupo ernst. Dan schaute wieder nachdenklicher drein, die finstere Miene war wie weggewischt.
Mr. Leary, der aufgewühlt war, weil er seine Grenzen überschritten hatte, wusste, dass der Junge fast jeden Nachmittag nach der Schule im Vicino di Napoli arbeitete. Der wohlmeinende Englischlehrer ließ Danny ziehen.
Wie so oft machte Mr. Leary nach dem Unterricht einige Besorgungen im Viertel. Er wohnte immer noch in der Gegend um die Northeastern University, wo er studiert und seine Frau kennengelernt hatte. Jeden Morgen nahm er die U-Bahn bis zur Station Haymarket und nachmittags wieder nach Hause, doch seine wenigen Einkäufe tätigte er im North End. Er unterrichtete schon so lange an der Michelangelo School, dass ihn praktisch alle im Viertel kannten; er hatte sie oder ihre Kinder unterrichtet. Dass sie sich über ihn lustig machten - schließlich war er
Ire
-, hieß nicht, dass sie Mr. Leary nicht
mochten,
seine Verschrobenheiten amüsierten sie.
Am Nachmittag seines nicht gut aufgenommenen »gewagten Vorschlags« machte Mr. Leary im Garten der St. Leonard Church halt, wo er sich wieder über das fehlende 's ärgerte - die Kirche müsste, fand der alte Englischlehrer, richtigerweise St. Leonard's Church heißen. Mr. Leary ging zum Beichten in die St. Stephen's, dort war das 's da, wo es hingehörte. St. Stephen's gefiel ihm einfach besser, es war dort einfach mehr wie in anderen katholischen Kirchen. St. Leonard war irgendwie
italienischer -
sogar das vertraute Gebet im Kirchengarten hatte man ins Italienische übertragen
»Ora sono qui. Preghiamo insieme. Dio ti aiuta.«
(»Jetzt bin ich da. Lasset uns gemeinsam beten. Gott wird dir helfen.«)
Mr. Leary betete, Gott möge Daniel Baciagalupo helfen, ein Vollstipendium für Exeter zu bekommen. Es gab noch etwas, was er an St. Leonard nie gemocht hatte, dachte Mr. Leary, als er den Garten verließ. Er hatte die Kirche nicht betreten; im Kircheninneren stand San Peregrine, ein Gipsheiliger, der einen Verband um das rechte Bein hatte. Mr. Leary fand die Statue abgeschmackt.
Und noch etwas gefiel ihm an St. Stephen's besser, dachte sich der alte Ire, nämlich dass die Kirche gegenüber vom Prado stand, wo sich die älteren Herren bei gutem Wetter zum Damespielen trafen. Gelegentlich machte Mr. Leary halt und spielte auch eine Partie. Einige der alten Burschen waren richtig gut, aber über die, die nicht Englisch gelernt hatten, ärgerte sich Mr. Leary; nicht Englisch zu lernen war für seinen Geschmack entweder nicht amerikanisch genug oder zu italienisch.
Ein ehemaliger Schüler, der inzwischen bei der Feuerwehr arbeitete, rief dem alten Lehrer vor der Feuerwache an der Ecke Hanover und Charter Street etwas zu, und Mr. Leary blieb stehen, um mit dem kräftigen Kerl ein paar Worte zu wechseln. In keiner bestimmten Reihenfolge holte sich Mr. Leary dann in Barone's Pharmacy ein Medikament ab und schaute in derselben Straße in dem Schallplattenladen Tosti's vorbei, wo er sich gelegentlich ein neues Album kaufte. Wenn Mr. Leary eine italienische »Schwäche« hatte, dann waren es Opern; allerdings muss man fairerweise sagen, dass er auch den Espresso im Caffe Vittoria schätzte
und
den sizilianischen Hackbraten, den Danny Baciagalupos Dad im Vicino di Napoli zubereitete.
Mr. Leary erstand eine Kleinigkeit in der Konditorei Modern an der Hanover Street. Er kaufte einige Cannoli, die er für sein Frühstück mit nach Hause nahm - die Teigrollen waren mit gesüßtem Ricotta, Nüssen und kandierten Früchten gefüllt. Mr. Leary musste zugeben, dass er auch für
diese
italienischen Köstlichkeiten eine Schwäche hatte.
Es behagte ihm nicht, die Hanover Street hinauf in Richtung Scollay Square zu blicken, obwohl er an jedem Schultag diese Richtung einschlug, um am Haymarket die U-Bahn nach Hause zu nehmen. Südlich der Station Haymarket stand das Casino Theatre, und ganz in der Nähe des U-Bahnhofs Scollay Square lag das Old Howard. Mr. Leary versuchte in beiden Etablissements immer, an den Premiereabenden die neuen Striptease-Shows zu sehen - ehe die Zensoren sie sahen und unweigerlich »säuberten«. Mr. Leary schämte sich dieser regelmäßigen Besuche in den Striptease-Clubs, obwohl seine Frau schon lange tot war. Seiner Frau wäre es
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