Letzte Nacht in Twisted River
war auf Arbeitssuche in den gottverlassenen Norden gegangen, wo er ertrunken war, genau wie schon sein Vater. (Eines der überzeugendsten Argumente dafür, auf der Schule zu bleiben, die Mr. Leary je gehört hatte!)
Seit jenem Elternabend mit der Witwe Del Popolo hatte Mr. Leary gelegentlich von ihr geträumt. Wahrscheinlich träumte jeder Mann, der dieser Frau begegnet war, von ihr, vermutete der alte Englischlehrer. Dennoch war in seinen Beichten in der St. Stephen's Church mehrmals ihr Name aufgetaucht. (Wäre Carmella Del Popolo im Casino Theatre oder im Old Howard als Stripperin aufgetreten, wäre die Bude jeden Abend brechend voll gewesen!)
Den Exeter-Brief steckte er in den Umschlag zurück, und in seiner Eile, möglichst rasch in das kleine italienische Restaurant zu kommen, das inzwischen (wie Mr. Leary wusste) eines der beliebtesten Speiselokale im North End war, übersah der eulenhafte Ire, dass ihm einer der ungezogenen Jungs aus der Mickey mit Kreide ein riesiges weißes O' auf seinen marineblauen Trenchcoat gemalt hatte. Bei seinen früheren Besorgungen im Viertel hatte Mr. Leary den Trenchcoat nicht angehabt. Jetzt zog er ihn arglos über und machte sich eifrig, aber nervös auf den Weg, mit dem kalkweißen O' auf dem Rücken, das noch aus einem Block Entfernung so gut zu sehen war wie eine Zielscheibe.
Als 1967 im Coos County Schlammperiode war, lebte der Schriftsteller Daniel Baciagalupo in Iowa City; in Iowa gab es einen richtigen Frühling, Schlammperioden waren hier unbekannt. Doch Danny, der 25 war und einen zweijährigen Sohn hatte - von seiner Frau war er gerade erst verlassen worden -, befand sich in einer seelischen Verfassung, die ausgezeichnet zur Schlammperiode gepasst hätte. Außerdem steckte er gerade mitten in einem neuen Roman und versuchte sich daran zu erinnern, worüber sie sich damals im Vicino di Napoli in dem Moment unterhalten hatten, als Mr. Leary, den Brief von Exeter in seinem Jackett, energisch an die verschlossene Tür klopfte. (Das Personal beendete gerade seine nachmittägliche Mahlzeit.)
»Es ist der Ire! Lasst ihn reine!«, rief der alte Polcari.
Eine der jungen Kellnerinnen öffnete Mr. Leary die Tür - Dannys Cousine Elena Calogero. Sie war um die zwanzig, genau wie die Kellnerin, die Carmella half, Teresa DiMattia. Carmellas Mädchenname war DiMattia. Wie die Witwe Del Popolo gerne sagte, war sie eine »zweimal vertriebene Neapolitanerin« - das erste Mal, als sie mit ihrer Familie aus Sizilien (wohin ihre Großeltern lange zuvor aus der Gegend um Neapel gezogen waren) ins North End ausgewandert war, und das zweite Mal, als sie einen Sizilianer geheiratet hatte.
Gemäß ihrer eigenen seltsamen Logik hatte Carmella sich selbst noch weiter
vertrieben,
dachte der Schriftsteller Daniel Baciagalupo, denn
Angelù
war sizilianisch (für Angelo), und Carmella hatte sich mit Dominic eingelassen. Doch in dem Kapitel, an dem Danny gerade arbeitete und das er mit »Abreise ins Internat« überschrieben hatte, war er ins Schwimmen geraten und hatte das Wesentliche aus dem Blick verloren.
Der zentrale Augenblick dieses Kapitels - als der Vater mit den Tränen kämpft und gleichzeitig seinem Sohn die Erlaubnis gibt, auf ein Internat zu gehen - wurde zu sehr aus der Perspektive des wohlmeinenden, aber aufdringlichen Englischlehrers des Jungen erzählt.
»Hi, Mike!«, hatte Tony Molinari an jenem Nachmittag im Restaurant gesagt. (Oder hatte Paul Polcari, der Pizzabäcker, Mr. Leary zuerst begrüßt? Der alte Joe Polcari, der früher mit Mr. Leary im Prado Dame gespielt hatte, redete den Lehrer immer mit Michael an - genau wie mein Dad, erinnerte sich Danny Baciagalupo.)
Für Danny war es ein schlimmer Abend zum Schreiben - vielleicht weil es diese Szene besonders in sich hatte. Seine Frau, die ihn soeben nach drei Jahren Ehe verlassen hatte, hatte zwar immer gesagt, sie werde nicht bleiben, aber er hatte ihr nicht geglaubt - er hatte ihr nicht glauben
wollen,
wie Ketchum betonte. Danny hatte Katie Callahan im Grundstudium an der University of New Hampshire kennengelernt. Er war im dritten Studienjahr gewesen und Katie im vierten, aber beide hatten sie in Aktzeichenkursen Modell gestanden.
Als Katie ihm mitteilte, dass sie ihn verließ, sagte sie: »Ich glaube immer noch an dich, als Schriftsteller, aber die einzige Gemeinsamkeit, die wir je hatten, bringt uns nicht sehr weit.«
»Welche Gemeinsamkeit soll das sein?«, hatte er sie gefragt.
»Uns macht es überhaupt
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