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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Kleine nur immer wieder solche
Details!,
fragte sich Mr. Leary. (Auch Mr. Leary ließ die nackte, tote Indianerin nun keine Ruhe mehr.)
    Doch warum sollte man Exeter mit diesen fragwürdigen Elementen von Dannys Phantasie verschrecken, die schon Mr. Leary alarmierten? Solche extremen Details waren nichts weiter als Taktlosigkeiten, denen ein reiferer Schriftsteller eines Tages entwachsen würde. Beispielsweise die Frau, die ein Männerflanellhemd trug, aber keinen bh - sie
missbrauchte
den geistig zurückgebliebenen Jungen, nachdem sie ein ganzes Sechserpack Bier getrunken hatte! Weshalb sollte Exeter von dieser Figur erfahren? (Mr. Leary wünschte, er könnte sie vergessen.) Oder die Frau in einem der Mietshäuser mit kaltem Wasser in der Charter Street, unweit von dem Badehaus und dem Copps-Hill-Friedhof - Mr. Leary erinnerte sich, dass auch sie ziemlich große Brüste hatte. Das war eine andere Baciagalupo-Geschichte, und die Frau aus der Charter Street wurde als Stiefmutter des geistig behinderten Jungen bezeichnet, des Jungen aus der früheren Geschichte. Doch jetzt wurde er nicht mehr als geistig behindert bezeichnet. (In der neuen Geschichte hieß es, der Junge sei »schlicht und einfach versehrt«.)
    Der Vater mit dem aufgefressenen Fuß hatte verwirrende Träume - sowohl von dem Bären als auch von der erschlagenen Indianerin. Angesichts der üppigen Formen der Stiefmutter des Versehrten Jungen hegte Mr. Leary den Verdacht, dass der Vater sich ganz besonders zu übergewichtigen Frauen hingezogen fühlte; natürlich war es sehr gut möglich, dass der junge angehende
Schriftsteller
vollschlanke Frauen verführerisch fand. (Allmählich spürte Mr. Leary den ungebetenen Reiz solcher Frauen am eigenen Leib.)
    Und die Stiefmutter war Italienerin, was geradezu einer Aufforderung an Mr. Leary gleichkam, seinen Vorurteilen freien Lauf zu lassen. Er suchte bei der Frau nach Zeichen von Faulheit und Übertreibung und stieß (zu seiner ungeheuren Zufriedenheit) auf ein perfektes Beispiel für den obenerwähnten »zügellosen Appetit«, den Mr. Leary Italienerinnen schon lange vorwarf: Die Frau badete hemmungslos.
    Sie war dem Baden so verfallen, dass in ihrer Kaltwasserwohnung eine übergroße Badewanne stand, und zwar im Mittelpunkt der viel zu kleinen Küche, in der permanent vier mit Wasser gefüllte Nudeltöpfe köchelten - das Badewasser erhitzte die Frau auf dem Gasherd. Der Standort der Wanne sorgte für Probleme mit der Privatsphäre: Der Versehrte Stiefsohn der hemmungslosen Frau hatte in seine Zimmertür, die zur Küche hin aufging, ein Loch gebohrt.
    Welche weiteren Versehrungen es hinterließ, wenn der Junge seine nackte Stiefmutter ausspionierte - nun, das konnte sich Mr. Leary nur ausmalen! Und was den Ideenreichtum des jungen Baciagalupo bei
Details
anging: Als sich die wollüstige Frau die Achseln rasierte, ließ sie in einer Achselhöhle ein kleines, spatenförmiges Haarbüschel stehen, »wie der akkurat gestutzte Ziegenbart eines Fauns«, hatte Dan geschrieben.
    »In
welcher
Achselhöhle?«, hatte Mr. Leary den angehenden Schriftsteller gefragt.
    »In der linken«, antwortete Danny, ohne einen Moment zu zögern.
    »Warum in der linken und nicht in der rechten?«, fragte der Englischlehrer.
    Der Junge sah nachdenklich drein, als rufe er sich eine ziemlich komplizierte Folge von Ereignissen in Erinnerung. »Sie ist Rechtshänderin«, antwortete Danny. »Mit der linken Hand kann sie nicht so geschickt mit dem Rasierer umgehen. Die rechte Achselhöhle rasiert sie mit der linken Hand«, erklärte er dem Lehrer.
    »Auch das sind hervorragende Details«, sagte Mr. Leary. »Ich finde, du solltest sie in der Geschichte unterbringen.«
    »Okay, wird erledigt«, sagte Dan. Er mochte Mr. Leary und bemühte sich nach Kräften, den Englischlehrer vor den Schikanen der anderen Jungs zu beschützen.
    Die anderen Jungs ließen Danny in Ruhe. Klar gab es auf der Mickey auch Quälgeister, aber die waren nicht so rüde wie die an der Schule in Paris. Wenn sich im North End irgendein Rüpel mit Danny Baciagalupo anlegte, musste der nur seinen älteren Cousins Bescheid sagen. Dann wurde der Quälgeist von einem Calogero oder Saetta nach Strich und Faden verdroschen; die älteren Cousins hätten selbst die West-Dummer-Dödel verdreschen können.
    Was Danny schrieb, zeigte er einzig und allein Mr. Leary. Natürlich schrieb der Junge ausführliche Briefe an Ketchum, doch darin standen keine ausgedachten Geschichten. Niemand,

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