Letzte Nacht
Spiegel, wie vorn ein Wagen an den Fenstern vorbeigleitet, findet die verkehrte Richtung verwirrend und dreht den Kopf, um zu sehen, wer es ist, versucht seine Neugier jedoch zu verbergen, als ihm klar wird, dass Roz und Nicolette ihn wahrscheinlich beobachten.
Es ist nicht Jacquies schneller, rasanter Accord, sondern Doms klobiger goldener Grand Am, also kann er aufhö ren, an der Bar zu arbeiten, und sich den Weg vornehmen, der schon mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt ist.
Der Schnee ist so trocken, dass er einen Besen benutzen kann. Beim Fegen blickt er beiläufig über den Parkplatz des Einkaufszentrums, auf dem es von Autos wimmelt, die ihre Scheinwerfer eingeschaltet haben, um die Dunkelheit und den Schnee zu durchdringen, der jetzt ununterbrochen senkrecht vom Himmel fällt. Er hat keine Jacke an, und allmählich packt ihn die Kälte, nimmt ihm den Atem und dringt in die Fingerspitzen, trotzdem lässt er sich Zeit.
Was würde es bedeuten, wenn Jacquie nicht auftaucht?
Dass all seine Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit falsch sind und noch schmachvoller, als wenn es sie nie gegeben hätte. Denn jetzt fällt es ihm schwer, daran zu glauben, dass es sie je gegeben hat. Der Tag, an dem sie sich freinahmen und einen Ausflug nach Lake Compounce machten, wo sie den ganzen Tag Karussell fuhren und in der Geisterbahn knutschten, als wären sie noch Teenager.
Der Tag, an dem sie morgens im Wartezimmer der Arztpraxis saßen und nicht miteinander redeten. Inzwischen sind diese Szenen ton‐ und bewegungslos. Er kann sich nur noch an Standbilder erinnern – ihr schwarzes Haar nass und schwer vom Duschen, ihre Strümpfe über einen Stuhl gehängt, das Licht vom Fenster in dem Glas Wasser auf dem Fußboden neben ihrem Bett gefangen –, doch statt mit der Zeit zu verblassen, sind diese Bilder noch kraftvoller geworden und können ihn lähmen, wenn er ihnen zu lange nachhängt.
Ein Teil von ihm – der verantwortungsvolle, klügere Teil, der sich wünscht, dass Deena grenzenlos glücklich ist – hofft, dass Jacquie nicht auftaucht. Was könnte er ihr schon sagen?
Lebewohl.
Ist es das? Das haben sie schon vor Monaten probiert.
Er hat immer darüber gestaunt, dass – obwohl es Millionen Menschen auf der Welt gibt – sie sich gefunden haben, egal ob es ein Zufall, Schicksal oder das Ergebnis einer folgerichtigen, auf sie einstürzenden Kette von Ereignissen war. Jetzt, wo er den Schnee betrachtet, der auf die dunklen Autos fällt, hält er das Ganze für ein noch grö ßeres Rätsel und, wie das Lobster, für unnütz.
Er denkt, sie hätte wenigstens anrufen können, aber auch das hätte nicht gereicht. Was hätte gereicht?
Er tauscht den Besen gegen eine Tüte Streusalz, verstreut die weißen Körner wie Hühnerfutter und beobachtet, wie sie herumhüpfen und sich verteilen. Sie knirschen unter den Füßen, schaffen eine andere Glätte, und er fände es passend, wenn jemand hinfiele, sich die Hüfte bräche und den Konzern verklagte. Bis jetzt hat er die Schneefräse in diesem Winter noch nicht benutzt, und eigentlich würde er es gern vermeiden, sie einzusetzen.
Es ist jedes Mal ein Kampf, das alte Ding anzuwerfen (es steht unter einer Plastikplane in der schummerigen Ecke hinter der Eismaschine und hat wahrscheinlich kaum noch Benzin). Wenn es so weiterschneit, muss ein Schneepflug den Parkplatz räumen, und er nimmt sich vor anzurufen, wenn er wieder reingeht. Aber im Moment gefällt es ihm, allein hier draußen zu sein, am Bordstein entlang auf dem Weg Salz zu streuen, und er folgt dem Gebäudeflügel bis zum äußersten Ende, von wo er wie ein Kundschafter die Einfahrt des Einkaufszentrums beobachten kann.
Ein paar Mal glaubt er ihren Accord einbiegen zu sehen, aber bei der Entfernung und der dichten Wolkendecke könnte jedes japanische Coupe ein Honda sein, jede dunkle Farbe kastanienbraun – bis die Wagen näher kommen und sich als enttäuschende Hyundais oder Mazdas, billige Imitationen entpuppen. Auf dem Weg zurück zur Mitte merkt er, dass das Streusalz allmählich zu wirken beginnt und sich rings um die Kügelchen wie bei einer Zielscheibe winzige Ringe bilden. Es ist gleich so weit; auch ohne einen Blick auf seine Armbanduhr spürt er, dass die Sekunden wie bei einem Countdown herunterticken.
Er nimmt sich den anderen Flügel vor, fängt am hinteren Ende an und kommt in entgegengesetzter Richtung zurück, damit er die Ampel im Auge behalten kann, und plötzlich hält ein Wagen am Stoppschild,
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