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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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aus, kräftig. Jamie und Nat Hand in Hand mit Nachbarin. Trauten sich nicht näher. Roch es eigenartig? Das Bett ist doch frisch bezogen. Kann überhaupt nicht schlafen.
    Es folgten zwei unbeschriebene Seiten. Dann, in steifen, kleinen Buchstaben, ein Datum: 30. Oktober 1772.
    James, vor drei Tagen bist Du vierundvierzig geworden. Ich schreibe Dir einen verspäteten Geburtstagsbericht. Du hast Deiner Besatzung wahrscheinlich eine Extraration Rum geben lassen, man hat Dir bestimmt ein Ständchen gebracht, und Ihr hattet einen festlichen Tag. Tanz auf dem Achterdeck mit Geige und Dudelsack, so stelle ich es mir vor. Wenn ich daran denke, kann ich den Alkoholdunst beinahe riechen und fühle die Hitze der tropischen Bucht, in der Ihr überwintert.
    Die Phantasie ist trügerisch, man sieht, was man sehen möchte. Du hast bestimmt an uns gedacht, daran, wie wir hier um den Küchentisch sitzen, wie das Feuer im Kamin lodert und wir Dir zu Ehren ein Festmahl essen. Hab ich recht? Falsch. Es ist hier anders. Wir haben keinen Appetit und keine Kraft, das Feuer anzumachen. Nathaniel lehnt blaß an meinen Knien, und Jamie ist den ganzen Tag draußen auf der Straße. Ich weiß nicht, was er dort treibt. Abends kommt Mama mit einem Topf Essen. Du weißt, wie erbärmlich sie kocht, sie kann meistens die Hälfte wieder mitnehmen.
    Wie soll ich es Dir sagen? Ich muß es Dir sagen. Ich muß es aufschreiben: Georgie ist tot.
    Er starb am 1. Oktober. Ich war nicht darauf vorbereitet. Vor vier Jahren, als der kleine Joseph starb, wußte ich, daß es geschehen würde. Ich sah es ihm an, gleich nach der Geburt, daß er dahinsiechen und verlöschen würde. Und so war es auch. Ihm fehlte das, was man haben muß, um am Leben zu bleiben. Es war furchtbar, daß ich ihn nicht wärmen und er meine Milch nicht trinken konnte, aber ich wußte es.
    Georgie war anders. Robust, lebhaft, mit roten Wangen. Er trank so gierig, daß er sich verschluckte und wütend mit den Fäustchen gegen meine Brust trommelte.
    Ich legte ihn auf dem Schaffell aus Yorkshire vor den Kamin, und er schaute in die Flammen. Er strampelte mit seinen dicken Beinchen und plapperte gegen das Feuer an. Die Jungen saßen bei ihm auf dem Boden, sobald sie aus der Schule kamen. Sie waren vernarrt in ihn. Er krähte vor Freude, wenn er ihre Stimmen hörte. Ich nahm ihn auf den Schoß, wenn wir aßen, in den letzten Wochen gab ich ihm schon etwas gestampftes Gemüse oder Apfelmus. Ich dachte an Dich.
    Ich muß das schreiben. Ende September bekam er Fieber. Ich muß Dir das sagen. Ganz kurz also: Arzt, Aderlaß, Einreibung mit Balsam, noch höheres Fieber, Zuckungen, Tod. Er lag bei mir im Bett. Gegen Morgen ist er gestorben. Onkel Charles hat einen kleinen Sarg getischlert. Ich habe die Wiege auf den Dachboden getragen. Und die kleinen Kleider. Und das Schaffell.
    Immer wenn er mich sah, lachte er und streckte die Ärmchen nach mir aus. Wir hatten so viel Freude an ihm.
    Ein Monat ist seither vergangen. Die Frauen in der Straße fragen sich, warum ich noch nicht nach draußen komme. Aber ich möchte hier drinnen sein. Es ist, als wäre es nicht wahr, solange Du es nicht weißt. Du denkst an ein gesundes Baby, einen George oder eine Georgina. In Deinem Kopf ist er noch da. Mit diesen Worten töte ich ihn.
    Du würdest zu mir sagen: Sei tapfer, den Jungen zuliebe, sie brauchen dich. Das versuche ich auch, lieber James, aber noch fehlt mir der Mut. Es ist grausam, daß unsere Kinder sterben. Ich kann mich nirgendwo beklagen. Der Protest rutscht mir wie Blei in die Beine und macht mich unbeweglich.
    Ich glaube nicht, daß ich dieses Haustagebuch hiernach noch weiterführen werde. Ich glaube nicht, daß ich Dich lesen lassen werde, was ich heute geschrieben habe.
    Sie schlug das Buch zu und ging zum Korb. Verbrennen war das beste; das hier zu lesen tat niemandem gut. Doch ihre Finger ließen das Buch nicht los, es schwebte einen Moment über den zerknüllten Zeitungen, aber es fiel nicht. Sie legte es behutsam auf den kleinen Stapel persönlicher Dokumente. Nachher in einen Karton stecken, dachte sie, und dann in irgendeinen entfernten Winkel damit, oben in einen Schrank.
    Sie blickte über die Tischplatte. Beinahe fertig. Bald kamen die Jungen, und es mußte gegessen, geredet und zugehört werden. Beeilung, schneller, damit die Aufgabe vollbracht wird und in den Tag paßt, damit sie sagen kann: Heute morgen habe ich den Tisch freigeräumt.
    Es blieb ein Stapel Briefe. Manche noch

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