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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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dieses Mahl überstanden hatte. Blickte sie auf sein starres, gequältes Gesicht, dann verging sie vor Mitleid. Blickte sie auf den zerlegten Vogel auf ihrem Teller, dann kam eine Wut in ihr auf, die sie sprachlos machte. Verwirrende Gedanken waren ihr durch den Kopf geschossen: Daß er von ihr getrunken und gegessen hatte und sie nun, da sein Hunger gestillt war, wegwarf. Daß es bei der ganzen Debatte nur um seine Nöte ging und die ihren nicht zählten. Viel hatte sie nicht gegessen, das wußte sie noch.
    Der Abschied. Er auf der Freitreppe, mit Stock. Sie in der Karosse, die schon anfuhr. Er streckte den Arm nach ihr aus, rief etwas, sie sah seinen weit geöffneten Mund. Die Räder knirschten durch den Kies. Brüsk hatte sie das Gesicht abgewandt. Und als sie im Schutz der Auffahrt fuhr, schlug sie mit dem Kopf gegen die Kutschenwand, vorsichtig, damit der Kutscher nicht stutzig wurde.
    Die kurzen Sätze hallten in ihrem Kopf nach, Tage und Wochen nach ihrem Besuch in Chalfont.
    »Es wäre eine Katastrophe.«
    »Wir kommen nicht von James los.«
    »Es hindert dich daran, dein Kind zu lieben.«
    Die Worte kreiselten in ihrem Kopf herum, sie konnte ihre Gedanken nicht davon befreien.
    Sie sah ihren jüngsten Sohn, diesen ernsten, langen Jungen, mit neuen Augen. Wie traurig, dachte sie, daß ich keine Verwandtschaft mit ihm empfinden kann. Wir sind vom selben Mann im Stich gelassen worden, warum ist dann diese Kluft zwischen uns? Mir ist, als hätte James mir dieses Kind als Stellvertreter für ihn aufgedrängt – an meinen Küchentisch gesetzt: Hier, mit ihm mußt du dich behelfen –, so daß ich das Kind nur lieben kann, wenn ich mich mit seinem Vater versöhnt habe. Der Gedanke verschaffte ihr eine gewisse Erleichterung, sie sah deutlich die Logik, die darin steckte. Doch kurz darauf war diese Empfindung verflogen, und sie wußte nur noch, daß sie einen Pfad gesehen hatte, der irgendwohin führte, der einen Ausweg aus der kräftezehrenden Beklemmung bot, an die sie sich so gewöhnt hatte – den Weg selbst jedoch konnte sie nicht mehr finden.
    Sie sorgte dafür, daß sie da war, wenn Benny aus der Schule kam. Sie aß mit ihm. Sie ließ ihn seine Aufgaben am Küchentisch machen und blieb bei ihm sitzen, nicht mit einem Buch, sondern mit einer Stickarbeit, damit sie seine Fragen gleich beantworten konnte, ohne sich von ihm gestört zu fühlen. Daß sie damit eine Aufgabe verrichtete, die sie große Anstrengung kostete, merkte sie erst, wenn er abends schlief. Dann griff sie zur Portweinkaraffe und zog sich in die Stube an den Kamin zurück; sie ließ sich tief in den Lehnsessel sinken, starrte in die Flammen und fühlte sich erschöpft. Charlotte, mehr und mehr zur hingebenden Haushälterin geworden, war in der Küche mit den letzten Verrichtungen beschäftigt und schrubbte die Töpfe sauber, die sie mit leisem Klingeln umgekehrt auf die Anrichte stellte.
    So ein Abend war es – April, das Fenster zum Garten stand offen, es war mild, nachmittags hatte es noch geregnet, aber gegen Abend war der Himmel aufgerissen –, als der Klopfer schwer gegen die Haustür fiel. Elizabeth richtete sich leicht auf und hörte Charlotte durch den Flur gehen, um die Tür zu öffnen. Eine Männerstimme mit fremdländischem Akzent dröhnte durch die Diele.
    »Darf ich Euch Euren Mantel abnehmen? Ich schaue mal eben, ob die gnädige Frau Euch empfangen kann. Ihr könnt hier warten.«
    Die Bank im Flur knarrte, als werde eine gewaltige Last darauf abgelegt.
    »Ein Herr«, sagte Charlotte durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür. »Er bringt einen Brief. Ein Fremder.«
    Hinter Charlotte erschien eine breite Gestalt. Ein Bär, dachte Elizabeth, ein Braunbär kommt mich besuchen. Sie erhob sich. Der Mann trat einen Schritt ins Zimmer und zog eine große Pelzmütze vom Kopf. Schwere schwarze Augenbrauen standen über seinen Augen wie ein durchgehender Wall. Eine rote Narbe auf der linken Wange, volle, rosige Lippen unter einem herabhängenden Schnurrbart. Er reichte ihr seine große, etwas schmutzige Hand. Der Nagel seines kleinen Fingers ragte zentimeterlang über den Finger hinaus, ein merkwürdiges, mattglänzendes Anhängsel, das ihr in die Handfläche schnitt und sie schaudern ließ.
    »Madam! Endlich! Eine friedliche Nacht wünsch ich Euch!«
    Sie starrte den Besucher verdutzt an. Er hatte eine ausgebeulte Reisetasche mit ins Zimmer gebracht.
    »Boris Afanisowitsch der Name!« brüllte der Mann, während er eine kleine

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