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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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vor. Du gibst ihm Bücher. Unabhängig davon braucht er derzeit offenbar noch etwas anderes. Das ist bei ganzen Volksstämmen so, das weißt du doch auch. Du scheust dich, ihm das zu nehmen, weil du nicht genau weißt, was es ihm bedeutet.«
    »Ich kann ihn nicht erreichen. Papa ist bei Gott, sagt er. Nein, sage ich, dein Vater ist tot. Er ist nicht mehr. Doch, Papa ist im Himmel, er singt mit den Engeln und schaut auf uns herab. Im Himmel sind die Sterne, sage ich, dunkelblaue Leere mit Sternen; ich zeige ihm den Polarstern, Orion, die Milchstraße. Dahinter, sagt er, darüber, dort ist Gott. Der Lehrer sagt das, denn es ist so. Dann fehlen mir die Worte. Er singt Psalmen, bevor er einschläft. Ganz rein. Im nächsten Schuljahr darf er im Kirchenchor mitsingen. Im Grunde fühle ich mich ausgeschlossen, ohnmächtig. Es ist meine eigene Schuld. Engel! James konnte überhaupt nicht singen.«
    Die Verärgerung ließ sie aufspringen. Palliser erhob sich langsam aus seinem Sessel und tastete nach seinem Stock. Die Türen weit auf, hinaus auf die Terrasse, in die prickelnde Frühlingsluft. Arm in Arm gingen sie die Stufen zum Park hinunter. Sanft geschwungene Felder, mit einem Netz aus Steinmäuerchen bedeckte Hügel, hier und da verteilt kleine Gruppen dunkelroter Buchen. Nirgendwo Wasser, nirgendwo Meer.
    »Laß ihn doch«, sagte Palliser. »Ich kann nichts Böses darin erkennen. Es spendet ihm Trost. Wie alt warst du, als du zu zweifeln begannst?«
    Sie lachte und legte den Kopf an seine Schulter.
    »Du hast mir gefehlt«, sagte er. »Du hast mir so sehr gefehlt.«
    Aus dein Gebüsch kam ein Geruch nach Zwiebeln und Knoblauch geweht, leicht und rätselhaft. »Bärlauch«, sagte Palliser und zeigte auf ein im Schatten liegendes weißes Blütenfeld.
    Er führte sie zu dem Denkmal. Auf dem pompösen Sockel war eine verhältnismäßig kleine Weltkugel angebracht. Elizabeth sah die Stille Südsee, aus der hie und da eine kleine Erhebung ragte. Ein Nichts, dachte sie, und dafür so viel Elend, so viel Aufregung. Stecknadelköpfe sind sie, diese Theater des Fortschritts. Der Strand von Hawaii, die Bucht von Tahiti.
    Sie machte eine unwillkürliche, tierhafte Bewegung mit den Schultern, als wollte sie den Gedanken an die Unheilsorte von sich abschütteln. Das Gefühl der Vergeblichkeit lähmte sie so sehr, daß es ihr nicht gelang, Palliser ein Kompliment für sein Denkmal zu machen. Langsam kehrten sie wieder zum Haus zurück.
    Sie hatte zuviel getrunken, das löste Worte und Tränen. Palliser fragte, wie es ihrer Mutter gehe, und Elizabeth weinte, zu ihrer eigenen Verblüffung. Sie schneuzte sich die Nase in sein Taschentuch.
    »Nicht so gut«, sagte sie. »Sie dämmert immer mehr dahin. Sie haben das Lokal verpachtet und wohnen darüber. Es ist groß genug. Die neuen Leute sind nett, die Frau kocht für sie. Ich höre das von Isaac, ich selbst komme nicht oft dorthin. Sie bricht in haltloses Schluchzen aus, wenn sie mich sieht. Dann denkt sie an Nat. Dieser Kummer ist jedesmal wieder überwältigend. Mein Vater, Stiefvater, muß ich sagen, ist schon ganz krumm vom Alter und vom Rheuma. Ich weiß nicht, was sie den ganzen Tag machen, und möchte auch lieber nicht daran denken. Alle vierzehn Tage laß ich ihnen ein Fäßchen Gin bringen, den mag sie so gern. Dann hat sie wenigstens etwas, was ihr Freude bereitet. Eine Hölle, das Alter. Ich bin eine schlechte Tochter.«
    »Gut genug«, sagte Palliser, »so gut du kannst.«
    »Ich bin dir auch eine schlechte Freundin gewesen. Die Tür habe ich dir gewiesen, so zornig war ich.«
    »Es stürmte in jenen Jahren. Bei uns beiden.«
    »Du hattest es dir gewiß anders vorgestellt. Ich bedaure das sehr.«
    Palliser schwieg und starrte in sein Glas. »Was ich mir vorgestellt habe«, sagte er nach einer langen Stille, »übersteigt jedes Maß. Ich brauche es dir nicht zu sagen, zwischen uns bedurfte es nie vieler Worte. Wir waren Seelenverwandte, Elizabeth. Dafür bin ich dir dankbar.«
    »Sind wir das nicht noch immer? Ich sitze an deinem Kamin, ich halte deine Hand!«
    Er zog seine Hand zurück und schenkte ihr Glas voll.
    »Du bist noch jung. Ich bin ein alter Mann«, sagte er mit belegter Stimme. »Wir würden – es wäre eine Katastrophe, Elizabeth. Ich bin nicht dafür geeignet. Du hast noch ein Leben vor dir. Du hast zwei Söhne. Du solltest dir keinen gebrechlichen Greis aufhalsen. Das ist mein Ernst. Es ist zu spät.«
    »So empfinde ich es ganz und gar nicht«, sagte sie

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