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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Kapitän sind immer geheim. Und noch gibt es gar keine Ordern, denn offiziell gibt es noch nicht einmal einen Kapitän.« Palliser hielt kurz inne und sah James an. Als er weitersprach, war sein Ton nüchtern und sachlich.
    »Gestern hat der König einen Preis für den Mann ausgelobt, der eine nördliche Durchfahrt findet. Eine beträchtliche Summe.«
    James blickte überrascht, und die Jungen hatten Fragen über Fragen. Palliser erläuterte, wie umständlich der Weg nach China und zu den Inseln Indonesiens sei, wenn man stets um das Kap Hoorn oder das Kap der Guten Hoffnung segeln müsse. Man stelle sich vor, man könnte einfach an Schottland entlang nach Norden fahren, oberhalb von Skandinavien Kurs gen Osten nehmen und würde so schließlich in den nördlichen Teil des Stillen Ozeans gelangen. Welch ein Unterschied in der Reisedauer, welche Möglichkeiten für Handel und Verkehr!
    »Man hat das zwar schon einmal versucht, aber ich habe den Eindruck, daß die Expeditionen schlecht vorbereitet und erbärmlich ausgerüstet waren. Es ist kalt dort oben, man muß sich seinen Weg zwischen dem Eis hindurch suchen, und die Proviantierung ist natürlich ein großes Problem. Bevor man ans Handeltreiben denken kann, muß die Route kartiert werden. Küsten, Inseln, Strömungen, die Reichweite des Polareises. Zwanzigtausend Pfund.«
    »Ich wußte, daß das kommen würde«, sagte James, »aber nicht, daß es so viel sein würde. Ich würde sagen: westlich, über Neufundland.«
    Er verstummte plötzlich und versank in Nachdenken. Palliser versuchte, den Kindern zu erklären, was man mit zwanzigtausend Pfund so alles machen könnte, und sagte, daß der König den Preis nach Weihnachten offiziell ausloben werde.
    »Von der Südsee aus. Zuerst nach Tahiti, dann nach Norden«, murmelte James. Elizabeth ging mit der Gans herum und gab ihrem Mann eine zweite Portion. Er schien es nicht zu bemerken.
    »Papa!« Nats Stimme durchschnitt die häusliche Geräuschkulisse von Löffeln auf Porzellan und knisterndem Holz im Kamin. »Papa, wirst du den Preis gewinnen?«
    Sie trug die Schale mit den Resten der Gans in die Küche. Die Antwort brauche ich nicht zu hören, dachte sie. Weihnachten. Alles muß bleiben, wie es jetzt ist. Sie verzögerte jedoch den Schritt und blieb auf der Schwelle zur Küche stehen, die Schale auf den erhobenen Unterarmen. Sie hielt den Atem an.
    »Nein, Junge«, sagte James. »Ich werde den Preis nicht gewinnen, denn ich gehe nicht mehr auf die Reise. Kapitän Gierke bekommt jetzt die Gelegenheit, und ich werde gute Schiffe für ihn aussuchen. Es wäre großartig, wenn es ihm gelänge, die Passage zu finden. Gar nicht mal des Geldes wegen, sondern unserem Wissen über diese nördlichen Meere zuliebe. Ich fahre nicht mit, ich bin lange genug gefahren.«
    Sie sind enttäuscht, dachte sie, während sie die fettige Schale abwischte. Jamie überlegt bestimmt schon, was man mit so einer gewaltigen Summe alles kaufen könnte. Für Nat ist es vielleicht vertrauter, wenn sein Vater weg ist. Er denkt sich womöglich, daß er nicht auf diese Schule und zur See muß, wenn James nicht da ist.
    Sie rief ihren Jüngsten in die Küche, damit er ihr mit dem Weihnachtspudding half. Gemeinsam legten sie einen Kranz aus Stechpalmenblättern um den dunklen, duftenden Kuchen, in dem die Rosinen glänzten wie Schrotkugeln. Nat trug das Ungetüm ins Zimmer, sie folgte mit dem Sahnekännchen. So leichtfüßig, daß der Rock um ihre Waden tanzte, erleichtert, wie sie sich seit Jahren nicht gefühlt hatte. Sorgsam verteilte sie die Portionen auf die Teller, mit gesenktem Kopf. Sie sah James erst in dem Moment an, als sie ihm seinen Teller reichte. Der Kuchen schwebte über dem Damast, einen endlosen Augenblick lang schauten sie sich ins Gesicht. Liebe Augen, dachte sie, er hat liebe Augen.
    Mitten in der Nacht wurde sie wach, allein. Sie setzte sich auf und spitzte die Ohren. Im Obergeschoß war es still, doch von unten drangen vage Geräusche herauf. Sie glitt aus dem Bett und lief barfuß die Treppe hinunter. Tastend trat sie in die Küche, wo noch der Fettgeruch von der gebratenen Gans in der Luft hing. Auf der Anrichte mußte eine Kerze stehen. Sie ließ ihren Augen einen Moment Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ja, dort. Anzünden. Die Flamme leuchtete flackernd auf. Sie stieß die Tür zur Waschküche auf.
    James übergab sich in einen Eimer. Das Haar hing ihm in feuchten Strähnen um den Kopf, und das Nachthemd klebte

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