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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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sie. »Sie heißt Grace.«
    »Es ist ein Junge, Elizabeth. Du hast einen Sohn geboren.«
    Sie schüttelte den Kopf. Der kalte Schweiß brach ihr aus. In einer fernen Ecke des Zimmers schimmerte Marys buntes Umschlagtuch. Sie versuchte, ihre Mutter scharf zu bekommen, es war so dunkel hier, man sah überhaupt nichts, kein Wunder, daß sich alle irrten.
    »Licht«, sagte sie, »laßt mehr Lampen kommen, ich brauche doch hier nicht im Dunkeln zu liegen!«
    Mary näherte sich mit einer Kerze. »Ich dachte einen Augenblick, du würdest es nicht schaffen«, sagte sie, »aber du bist nicht so leicht unterzukriegen. Das hast du gut gemacht. Ein weiterer kleiner Kerl. Jetzt mußt du trinken. Für die Milch.« Sie hielt ihrer Tochter ein Glas Bier hin, aber Elizabeth ignorierte es und sah ihre Mutter weiterhin fragend an.
    »Es ist wirklich ein Junge. Er hat mir über die Hände gepinkelt. Du warst sicher kurz bewußtlos, daß du es nicht gesehen hast.«
    »Das ist nicht wahr«, sagte Elizabeth. »Ich glaube das nicht.«
    Mary begann, das Tuch um den kleinen Unterleib abzuwickeln, und entblößte die spillrigen Beinchen. Sie schlug die Windel zurück. Ein winziges Pimmelchen auf geschwollenem Skrotum, rot und runzlig wie ein alter Granatapfel.
    Das falsche Kind. Elizabeth ließ ihre Arme auseinanderfallen, und das Kind rollte über die Decke zu ihren Füßen hin.
    »So. Ich packe ihn wieder ein. Er kann in seine Wiege. Er muß schlafen.«
    Sie fühlte, wie Mary das kleine Gewicht von ihren Beinen hob. Fortscheren sollten sie sich, allesamt. Das falsche Kind. All das Elend, all die Schmerzen, all die Warterei. Für das falsche Kind.
    »Du mußt auch schlafen. Erst geben wir ihm noch einen Namen, und dann ruhst du dich aus.« James' Stimme an ihrem Ohr. Noch ein Matrose, dachte sie, für ihn. Haben sie Babys vertauscht, als ich nicht achtgab? Das kann doch nicht sein, es ist nur ein Baby hier. Aber wo ist dann mein Mädchen? Es stimmt nicht. Es ist falsch.
    »Hugh«, sagte James. »Er heißt Hugh. Ein Ehrenerweis an Palliser. Das wird ihm gefallen.«
    Er benennt seine Kinder, wie er Inseln und Buchten einen Namen gibt, dachte sie. Hugh! Wenn er wüßte! Hugh! Das bekam sie ohnehin nie über die Lippen, das war zu verrückt, um wahr zu sein. Sie brach in ein nervöses Gelächter aus, sie konnte gar nicht mehr aufhören, eine Farce war das, sie hatten hier im Schlafzimmer Komödie gespielt, und der Höhepunkt war die Ankunft des falschen Kindes. Das Hugh hieß. Schallendes Gelächter. Applaus. Vorhang.
    Mit aller Macht saugte das Kind mit seinem Altmännermund an ihren Brustwarzen.
    »Ich verstehe das nicht«, sagte Elizabeth. »Ich habe immer Milch gehabt.«
    »Wird schon werden«, brummte Mary. »Bier. Tag und Nacht Bier. Dann schießt sie ein.«
    Zwei Tage und Nächte hatte das Kind geschrien. Jedesmal, wenn Elizabeth es an die Brust legte, begann es hoffnungsvoll zu saugen, um nach wenigen Minuten wieder verzweifelt loszuschreien.
    »Das wird nichts«, seufzte Elizabeth. »Schau doch, er wird ganz schlapp, er magert ab, er trocknet aus.«
    Ihre Mutter beugte sich über das Bett und pflichtete ihr bei. »Ich gebe ihm Zuckerwasser, dann schläft er ein Weilchen. Aber er braucht Milch.« Sie bettete den Kleinen an ihre Schulter und ging mit ihm im Zimmer umher. Das erschöpfte Gesichtchen zeichnete sich bleich gegen das grellbunte Umschlagtuch ab. Eine Amme, das sei die Lösung. Die Hebamme kenne gewiß eine Mutter, die ihr Baby verloren habe und verzweifelt mit gespannten Brüsten dasitze. Sie werde sich gleich darum kümmern.
    Elizabeth ließ sich in die Kissen zurückgleiten. War die Tatsache, daß sie ihr Kind nicht stillen konnte, eine Niederlage, ein Beweis für ihre Untauglichkeit? Es war ihr egal. Sechsmal am Tag würde sich nun eine bekümmerte Frau in die Küche schieben, sich auf einen niedrigen Stuhl am Herd setzen, und Elizabeth würde ihr das Kind bringen. Nach einer Viertelstunde würde die Frau wieder verschwinden, und Elizabeth könnte ihren neuen Sohn säubern und schlafen legen. Würde das Kind mit der rettenden Milch auch den Kummer und die Wut der Amme in sich hineinsaugen? Ein schlechter Beginn. Aber besser falsche Milch als keine Milch. Sie schloß die Augen.
    »Mama?« Nat stand neben dem Bett, mit gekämmten, nassen Haaren. Er hatte eine Matrosenbluse an, die ihm viel zu weit war. »Von Isaac bekommen. Schon mal für die Schule. Trägt sich unheimlich gut. Isaac hat mir den Kompaß beigebracht. Und ich

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